Serie Teil 9/10

Dematerialisierung: Deutschland, bitte aufwachen!

Serie

Im Übergang zur fünften industriellen Revolution gehen den Industriestaaten die Zukunftsideen aus. Auch Deutschland stolpert mehr in die Zeit der „Erde 5.0“, als dass es sein Herz in die Hand nimmt und die eigene Zukunft selbstbewusst gestaltet.

Die Welt digitalisiert in rasender Geschwindigkeit. Das Silicon Valley, Traum- und Pilgerziel von deutschen Managern und Politikern, ist längt nicht mehr der einzige Hotspot technologischer Entwicklung. Vor allem China drängt in die digitale Sphäre. Bei Zukunftsthemen wie Robotik, Künstlicher Intelligenz oder bei dem neuen Mobilfunkstandard 5G wird das Land eine führende Rolle spielen. Das ist keine gute Nachricht, denn als autoritärer Staat setzt sich China über ethische Bedenken hinweg, treibt die Digitalisierung und Vernetzung rigoros, zuweilen skrupellos voran. So ist es im Reich der Mitte bereits beschlossene Sache, mittels Digitalisierung die Bevölkerung zu kontrollieren und zu steuern. Ein Vorgehen, das in Deutschland undenkbar wäre.

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Digitalisierung, das zeigt sich an vielen Orten, ist an sich weder gut noch schlecht. Sie ist immer das, was die Menschen aus ihr machen. Die offenkundigen Fähigkeiten Russlands in Sachen Cyberkriminalität zeugen letztlich auch von hoher digitaler Kompetenz. In Saudi Arabien ist mit „Neom“ eine digitalisierte und vernetzte Superstadt geplant, in der in großem Stil alle Innovationen, die unter dem Stichwort „Smart City“ diskutiert werden, auf sage und schreibe 26.000 Quadratkilometern realisieren werden sollen. Man darf gespannt sein, wie das autoritäre Königreich dieses Projekt ausgestaltet und was es für die Menschen dort letztlich bedeutet.

Diese Beispiele zeigen: Viele Staaten agieren in der digitalen Transformation deutlich engagierter als Deutschland und Europa. Doch Deutschland wird wirtschaftlich und digital unweigerlich mit diesen Märkten, diesen Nationen und Gesellschaften verbunden sein, muss sich behaupten und wettbewerbsfähig bleiben. Damit ist eben nicht nur der ökonomische Aspekt gemeint. In Zeiten des „Digitalen Darwinismus“ konkurrieren längst auch Werte- und Gesellschaftssysteme miteinander.

Was haben die westlichen, demokratischen Staaten dem digitalen Rigorismus autoritärer Regime entgegenzusetzen? Wie passen sie sich an die neuen „Lebensbedingungen“ in der digitalen Sphäre an? Welche Rolle übernehmen sie bei der Neuverteilung der Welt? Antworten auf solche Fragen bleiben Berlin, Brüssel und andere westliche Hauptstädte schuldig.

Die Zukunft passiert nicht einfach so. Sie ist ein Projekt!

Digitales Risikoland

Es ist paradox: Die Medien berichten tagtäglich von digitalen Innovationen in Unternehmen, von strukturellen, disruptiven Veränderungen in Märkten – und trotzdem befassen sich viele Unternehmen und Politiker nach wie vor nicht mit den Auswirkungen. Allzu bereitwillig folgen sie den Beschwichtigern, die ihnen einreden, dass die umfassende Digitalisierung schon nicht so schnell kommen und so gravierend ausfallen wird. Selbst Fachleute, die es eigentlich besser wissen müssten, stimmen in diesen Kanon mit ein. Kaum zu glauben, dass Roland Berger Strategy Consultants, eine Institution unter den deutschen Unternehmensberatungen, sich zu einem Statement wie diesem hinreißen lässt: „Die Digitalisierung kommt, aber sie kommt mit breiter Wirkung nicht so schnell, wie manche Panikmacher uns glauben machen. Und die vielbeschworene, durch den technologischen Wandel ausgelöste Massenarbeitslosigkeit findet nicht statt.“

Eine gravierende Fehleinschätzung. Deutschland ist ein digitales Risikoland, weil es in hohem Maße von besonders gefährdeten Schlüsselindustrien wie der Automobilbranche, dem Anlagen- und Maschinenbau abhängig ist. Das Internet der Dinge, Künstliche Intelligenz, die Blockchain und der 3D-Druck werden, gepaart mit der Sharing Economy, die Spielregeln in diesen Märkten komplett verändern und die Arbeit verschwinden lassen. Wer sich aufmerksam umschaut, erkennt die tiefgreifende Digitalisierung und die damit einhergehende Dematerialisierung an vielen Punkten:

  • KI beginnt bereits, in Versicherungen und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften all jene Menschen zu ersetzen, die mit strukturierten Daten, zum Beispiel Verträge und Zahlen, arbeiten.
  • Die smarte Fabrik ist frei von Menschen.
  • Die Automobil- und Zuliefererindustrie wird durch autonome und vernetzte Verkehrssysteme und die Sharing Economy deutlich schrumpfen.
  • Die Heerscharen an Technikern, die jetzt noch den Mobilfunk und die terrestrischen Breitbandnetze ausbauen und in Stand halten, werden in der nächsten Stufe nicht mehr benötigt: Im Internet der Dinge wird jedes Gerät zu einer IP-Adresse, direkt adressierbar und aus der Ferne zu warten.
  • KI wird die Entwicklung von neuer Software und die Analyse von Daten übernehmen und führt bereits heute all die Hoffnungen auf neue Jobs, zum Beispiel für Programmierer oder Data Scientists, ad absurdum.

Diese Liste ließe sich beliebig verlängern. In dieser prekären Situation zieht sich der deutsche Michel die Zipfelmütze über den Kopf und dämmert weiter vor sich hin. Die Digitalagenda der alten Bundesregierung? Sprang viel zu kurz. Die Digitalstrategie der neuen Bundesregierung? Konturenlos.

Trotz monatelangen Ringens um die Regierungsbildung wurde wieder einmal die Chance verpasst, das Thema Digitalisierung zu institutionalisieren, auf einen gebührenden vorderen Platz der politischen Agenda zu hieven und klare Kompetenzen zu schaffen. Stattdessen werden jetzt Dorothea Bär (CSU) als Staatsministerin für Digitalisierung – eine Querschnittsfunktion ohne eigenes Ministerium – und die CDU-Politikerin Eva Christiansen (CSU) als Verantwortliche für Digitalpolitik im Kanzleramt an der digitalen Zukunft arbeiten. Angesichts der Konkurrenzkämpfe zwischen CSU und CDU kann man nur hoffen, dass sie aus der zweiten Reihe etwas Konstruktives zustande bringen.

Nicht negieren, sondern handeln

Im Hintergrund hat sich derweil das 2017 auf Initiative der Bundesregierung gegründete „Deutsche Internet Institut“, das auch auf den Namen „Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft“ hört, an die Arbeit gemacht. Letztlich handelt es sich dabei um nicht mehr als einen Initiativverbund der renommierten Berliner Hochschulen. Ob ihre gemeinsamen Anstrengungen ausreichen, um ein Fundament für eine Vision für ein digitales Deutschland zu legen, muss sich erst noch herausstellen. Zweifel sind angebracht, zumindest an der Geschwindigkeit, in dem sich in einem solchen Verbund konkrete, belastbare Vorstellungen entwickeln können.

Die aber sind vonnöten. Wir brauchen einen Wettbewerb der Zukunftsideen für das Leben in der „Infosphäre“, die der Digitalphilosoph Luciano Floridi (Universität Oxford) in seinem Buch „Die vierte industrielle Revolution“ beschreibt. Wir waren schon mal weiter. Als Carl Benedikt Frey und Michael Osborne an der Oxford Martin School vor fünf Jahren eine Studie veröffentlichten, die bis zu 47 Prozent der Jobs in den Industriegesellschaften in Gefahr sahen, intensivierte sich kurzzeitig die Diskussion. Mittlerweile werden die zu wahrscheinlichen Folgen durch die Digitalisierung, insbesondere das Verschwinden der Arbeit, wieder weitgehend negiert. Aber wenn die Deutschen nicht eines Tages mit der plötzlichen Erkenntnis aufwachen wollen, dass sie ihre wirtschaftliche Spitzenposition eingebüßt und nachlässig den Zusammenhalt der Gesellschaft aufs Spiel gesetzt haben, dann müssen sie jetzt handeln.


Lesen Sie auch die anderen Beiträge der Serie „Dematerialisierung“:

Teil 1: Dematerialisierung – Die Neuverteilung der Welt

Teil 2: Dematerialisierung – Die neue Infrastruktur des Wohlstands

Teil 3: Dematerialisierung – Willkommen, KI!

Teil 4: Dematerialisierung: Blockchain – das Betriebssystem der vernetzten Welt
Teil 5: Dematerialisierung: Sharing Economy – Teilen ist das neue Haben
Teil 6: Dematerialisierung: Die Digitalisierung rauscht noch an den Bilanzen vorbei
Teil 7: Dematerialisierung: Liberté, Egalité, Agilité
Teil 8: Dematerialisierung: Die Zukunft der Datengesellschaft
Teil 9: Dematerialisierung: Deutschland, bitte aufwachen!


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Rückblende

Vor zwei Jahren gaben der Philosoph Richard David Precht und ich einem österreichischen Magazin ein Doppelinterview. Es war ein überaus spannendes Gespräch. Wir waren uns einig darin, dass die Digitalisierung einen Großteil der Arbeit verdrängen wird, das Zusammenleben und die Sozialsysteme auf eine harte Probe gestellt werden und ein bedingungsloses Grundeinkommen Teil der Lösung sein wird. Jetzt haben Precht und ich fast zeitgleich unsere Ideen zu Papier gebracht. Precht hat unter dem Titel „Jäger, Hirten, Kritiker“ seine Vorstellungen einer digitalen Utopie veröffentlicht. Mein Buch „Erde 5.0 – die Zukunft provozieren“ erscheint im Juni. Wir sehen die gleichen Phänomene, laufen in unseren Schlussfolgerungen jedoch nur teilweise parallel. Insbesondere in der Bewertung der Technologie liegen wir auseinander. Während Precht dafür plädiert, die Digitalisierung quasi einzuhegen und abzubremsen, glaube ich: Technologie löst die meisten Probleme, auch die, die durch Technologie selbst verursacht werden.

Industrielle Revolution 5.0

Die industrielle Revolution 5.0 bietet dafür alle Chancen. Sie haben richtig gelesen: 5.0. Die vierte industrielle Revolution, in deren Kern Vernetzung und Daten stehen, lassen wir gerade hinter uns. Die Industrie 5.0 wird von autonom agierenden, in einem feinen Gewebe verbundenen, cyberphysischen Systemen geprägt sein. Die Kooperation zwischen Mensch und Maschine erreicht ein neues Niveau, vor allem aber interagieren im 5.0-Zeitalter die Maschinen ohne Zutun des Menschen miteinander. Nicht nur für die Wirtschaft ergeben sich daraus immense Potenziale. Die exponentielle Wucht dieser neuen Stufe der industriellen Entwicklung wird dabei helfen, die großen Herausforderungen der Welt – Klimawandel, Hunger, Armut, Krankheit und Ungerechtigkeit – zu bewältigen (dazu mehr im abschließenden zehnten Teil der Serie in der kommenden Ausgabe von it management und auf it-daily.net). 

Gleichzeitig stehen wir uns und unseren Kindern gegenüber in der Pfl icht, eine Gesellschaft 5.0 vorzudenken und die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Niemand sagt, dass es einfach sein wird, den Kapitalismus zu modernisieren und trotz aller Technologie ein humanes, demokratisches Miteinander zu gestalten. Aber es ist möglich. Das bedingungslose Grundeinkommen gewinnt immer mehr Fürsprecher, das ist erfreulich, doch das BGE ist kein Allheilmittel. Ein tragfähiges Zukunftskonzept erfordert Innovation und Umdenken in vielen Bereichen. Wir brauchen zum Beispiel…

  • ein neues Ziel: Das Wohl aller Menschen muss wieder als Zweck begriffen werden, durchaus auch im Sinne jenes „Bruttonationalglücks“, nach dem der kleine Staat Bhutan strebt.
     
  • ein adäquates Mindset: Exponentielles ersetzt lineares Denken, um den digitalen Chancenraum mit Ideen füllen. smartes Handeln: Big Data und Künstliche Intelligenz liefern Wirtschaft und Politik präzise und verlässliche Insights für bessere Entscheidungen.
     
  • schnellere Prozesse: Die „digitale Latenz“ muss verkürzt werden. Staat und Gesellschaft reagieren einfach viel zu langsam auf den digitalen Fortschritt. Wer die Zukunft gestalten will, muss agieren.
     
  • eine Sinnwirtschaft: Der positive Beitrag eines Unternehmens zur Gesellschaft („Total Societal Impact) tritt an die Stelle des Shareholder Value.
     
  • eine Zirkulärwirtschaft, in der nur noch komplett wiederverwertbare und recyclebare Produkte gehandelt werden.
     
  • eine neue Ethik, die dem Menschen die Kontrolle über seine Identität, sein Leben und seine Daten sichert. Nur dann können wir verhindern, dass der soziale Kitt unserer Gesellschaft vollends zerbröselt und der Populismus an Boden gewinnt.

Die Zukunft passiert nicht einfach so. Sie ist ein Projekt. Und wenn wir es endlich fokussiert angehen, sichern wir nicht nur die die Ertragskraft der Wirtschaft und ihren Erfolg in den globalisierten Märkten. Die Digitalisierung zwingt uns dazu und ermöglicht es uns gleichzeitig, unser Verständnis von Menschlichkeit, von Demokratie und Teilhabe „upzudaten“ und so weiter eine eigenständige, unabhängige Position im Wettbewerb der Nationen und Gesellschaftssysteme einzunehmen.

Karl-Heinz Land Karl-Heinz Land ist Digital Evangelist und Gründer der Strategie- und Transformationsberatung neuland sowie Sprecher der Initiative Deutschland Digital (IDD).

www.neuland.digital

 

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