Googles Gegenangriff

Gemini 3 zündet – wird Alphabet zum Schreck der KI-Branche?

ChatGPT vs. Gemini
Bildquelle: Visuals6x/Shutterstock.com

Googles Gemini 3 setzt neue Maßstäbe – mit PhD-Level-Reasoning und nativer Integration in hunderte Millionen Nutzerkonten. Arthur D. Little-Experte Dr. Thomas Thiele analysiert im Interview, warum OpenAI unter Druck steht und weshalb die nächsten 12-18 Monate über die Machtverhältnisse im KI-Markt entscheiden werden.

Herr Dr. Thiele, Was macht Gemini 3 so gut?

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Dr. Thomas Thiele: Gemini 3 überzeugt vor allem durch seine außergewöhnliche Leistungsfähigkeit: Das Modell führt eine Vielzahl relevanter Benchmarks, darunter Humanity’s Last Exam, MathArena und Video-MMMU – souverän an und erreicht laut Google ein Reasoning-Niveau, das mit einem PhD-Level vergleichbar ist. Auch wenn dieses Leistungsniveau nicht in jedem Anwendungsfall notwendig ist und für agentische KI-Szenarien teilweise sogar mit höheren Kosten einhergehen kann, markiert es dennoch einen technologischen Sprung nach vorn.

Ein wesentlicher Vorteil von Gemini 3 liegt in seiner umfassenden Multimodalität. Das Modell verarbeitet Text, Bilder, Audio, Video und sogar Code innerhalb eines einheitlichen Frameworks und bietet dabei ein außergewöhnlich großes Kontextfenster von bis zu rund einer Million Token. Dadurch können deutlich längere und komplexere Informationsströme in einem Schritt analysiert und verarbeitet werden.

Besonders hervorzuheben ist zudem die Weiterentwicklung im Bereich des Reasonings. Der integrierte „Deep-Think“-Modus ermöglicht präzise Ergebnisse bei komplexen Fragestellungen, wenngleich dies mit einer reduzierten Verarbeitungsgeschwindigkeit einhergeht.

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Schließlich zeigt Gemini 3 eine sehr starke Performance bei Programmieraufgaben und in agentischen Workflows. Das Modell unterstützt anspruchsvolle mehrstufige Abläufe („agentic creation“) und eignet sich damit hervorragend für Szenarien, in denen Code-Generierung, Planung und autonome Ausführung eng ineinandergreifen müssen.

Ein weiterer zentraler Vorteil von Gemini 3 liegt in seiner breiten und tiefen Adoption innerhalb des Google-Ökosystems. Das Modell ist nativ in zentrale Produkte wie Google Search (AI Mode), die Gemini-App, Workspace sowie Vertex AI eingebettet. Dadurch interagieren bereits hunderte Millionen Nutzer regelmäßig und oft unbemerkt mit der Technologie. Dieser strukturelle Vorteil unterscheidet Gemini deutlich von der OpenAI-Welt, in der viele Kernfunktionen erst nachträglich über App-Integrationen oder separate Chat-Erweiterungen eingebunden werden. Die enge Verzahnung innerhalb der Google-Produktlandschaft beschleunigt sowohl die Nutzung im Alltag als auch die Skalierung innovativer KI-Anwendungen.

Wie bewerten Sie die technologischen Vorteile von Alphabet gegenüber OpenAI, insbesondere im Hinblick auf eigene Chip-Entwicklung und Datenzugang?

Dr. Thomas Thiele: Alphabet verfügt im Vergleich zu OpenAI über mehrere strukturelle technologische Vorteile, die sich sowohl auf Kosten, Skalierung als auch auf Innovationsgeschwindigkeit unmittelbar auswirken. Ein zentraler Faktor ist die eigene Chip-Entwicklung: Google setzt beim Training und beim Serving seiner Modelle auf selbst entwickelte Tensor Processing Units (TPUs) und kann damit gegenüber rein NVIDIA-basierten Infrastrukturen zweistellige Prozentbeträge an Kosten einsparen. Dieses Hardware-Fundament ist Teil einer weitgehend vertikal integrierten Architektur, die von der Grundlagenforschung durch DeepMind über eigene Chips, Rechenzentren und die Cloud-Infrastruktur bis hin zu global genutzten Endprodukten wie Search, YouTube oder Android reicht.

Diese vollständige Wertschöpfungskette verschafft Alphabet nicht nur operative Effizienz, sondern auch einen unvergleichlich großen Datenzugang. Der Zugriff auf den Web-Index, YouTube-Inhalte, Maps-Daten oder Android-Telemetrie liefert eine enorme Vielfalt und Tiefe an Trainings- und Feedbackdaten, die für die Entwicklung hochleistungsfähiger generativer Modelle entscheidend sind.

Hinzu kommt die Art und Weise, wie Google seine KI-Modelle produktseitig integriert: Gemini ist tief in zentrale Anwendungen wie Google Search, Gmail, Docs, Android oder Chrome eingebettet. Nutzer gelangen dadurch automatisch in die Nutzung der KI-Funktionen, ohne aktiv den Anbieter wechseln oder separate Dienste installieren zu müssen. Diese „Reibungslosigkeit“ in der Adoption ist ein signifikanter Wettbewerbsvorteil.

Im direkten Vergleich bleibt OpenAI stärker von externen Partnern abhängig – insbesondere von Microsoft Azure für Rechenkapazitäten sowie von NVIDIA für GPU-Hardware – und verfügt nicht über ein eigenes Massen-Consumer-Ökosystem in vergleichbarer Größenordnung. Zwar hat OpenAI durch Kooperationen und neue Produktwege versucht, diese strukturellen Nachteile abzufedern, erreicht jedoch nicht den Grad der systemischen Integration, der Google heute auszeichnet.

Wie kritisch schätzen Sie OpenAIs Situation ein, falls Gemini 3 tatsächlich signifikante Marktanteile gewinnt, nachdem das Unternehmen massiv in Infrastruktur investiert hat?

Dr. Thomas Thiele: OpenAI steht vor einer potenziell heiklen Situation, sollte Gemini 3 tatsächlich signifikante Marktanteile gewinnen. Das Unternehmen hat in den vergangenen Jahren enorme Infrastrukturverpflichtungen aufgebaut: Milliardenverträge mit Cloud- und GPU-Anbietern wie Oracle und CoreWeave sichern zwar die erforderlichen Kapazitäten für das Training und das Serving großer Modelle, erzeugen jedoch zugleich langfristige Fixkosten, die unabhängig von der tatsächlichen Nutzung bedient werden müssen. Dieses Setup wirkt wie ein finanzieller Hebel – wirtschaftlich rechnet sich die Struktur nur, wenn die Nutzung von ChatGPT, der API und den Enterprise-Angeboten hoch bleibt und weiter wächst. Eine spürbare Abwanderung von Kunden hin zu Gemini 3 würde daher unmittelbar auf die Margen durchschlagen.

Intern scheint OpenAI diese Risiken klar erkannt zu haben. Medienberichten zufolge hat Sam Altman eine Art „Code Red“ ausgerufen und verschiedene Nebenprojekte pausieren lassen, um sämtliche Ressourcen auf qualitative Verbesserungen von ChatGPT zu konzentrieren. Noch besitzt OpenAI einen deutlichen Vorsprung in Bezug auf aktive Nutzerzahlen sowie eine äußerst starke Markenwahrnehmung. Dieser Vorsprung könnte jedoch rasch erodieren, wenn Google in der Suche kostenlose KI-Funktionalitäten mit gleichwertiger oder sogar höherer Qualität anbietet. Für Nutzer wäre das kurzfristig vorteilhaft, doch für OpenAI würde es zusätzlichen Druck erzeugen, da Google hier anfänglich bereit ist, massiv zu investieren.

Auch die Investorenseite spielt eine Rolle: Die Erwartungen sind hoch und basieren auf ambitionierten Umsatzpfaden im zweistelligen Milliardenbereich. Diese Wachstumsstory setzt voraus, dass OpenAI dauerhaft Marktanteile hält und weiter ausbaut. Sollten Marktanteile im Kernproduktbereich deutlich zu Google abwandern, würde das die wirtschaftliche Perspektive des Unternehmens spürbar belasten und das Narrativ gegenüber Investoren schwächen.

Wie schnell können Nutzerbindungen in der KI-Branche kippen? Welche Faktoren entscheiden darüber, ob User den Anbieter wechseln?

Dr. Thomas Thiele: In der KI-Branche können Nutzerbindungen äußerst schnell kippen, da die Wechselkosten sowohl für Endnutzer als auch für Unternehmen minimal sind bzw. minimal gehalten werden. Der Umstieg zwischen verschiedenen KI-Tools ist technisch trivial und erfordert in der Regel lediglich den Wechsel der Website oder App. Typischerweise existieren auf Unternehmensebene kaum strukturelle Lock-ins für LLMs, da moderne IT-Architekturen aufgrund der hohen Marktdynamik im KI-Sektor ohnehin weitgehend vendor-agnostisch ausgestaltet sind.

Entscheidend für einen Anbieterwechsel ist in erster Linie die wahrgenommene Qualität: Nutzer orientieren sich an besseren Antworten, stärkerem Reasoning, höherer Aktualität, multimodalen Fähigkeiten und – auf IT-Seite – an klaren Kostenargumenten. Hinzu kommen Aspekte wie Sicherheit und digitale Souveränität, bei denen Google weiterhin mit dem Image der „Datenkrake“ konfrontiert ist. Gleichzeitig spielt das jeweilige Ökosystem eine wichtige Rolle. Tiefe Integration in bestehende Arbeitsabläufe, etwa über Google Workspace, Microsoft 365 oder Entwickler-Tools, schafft Gewohnheit und Bequemlichkeit. Allerdings verfügt Microsoft mit Office über eine deutlich stärkere Marktdominanz, was den Wechsel in manchen Geschäftsumgebungen verlangsamt.

Auch der Preis ist ein starker Treiber: Kostenlose oder stark vergünstigte KI-Angebote können vor allem Gelegenheitsnutzer sehr schnell abziehen. Google hat hier eine strategische Stärke, da das Unternehmen seine KI-Modelle über querfinanzierte Kernprodukte wie die Internetsuche integrieren kann. Schließlich spielen Vertrauen und Markenwahrnehmung eine zentrale Rolle. „ChatGPT“ steht derzeit nahezu synonym für KI, doch Datenschutzprobleme, Sicherheitsfragen oder Reputationsereignisse können Vertrauen schnell verschieben – und damit Marktanteile.

Welche realistischen Handlungsoptionen hat Sam Altman, um gegen Alphabets strukturelle Vorteile zu bestehen?

Dr. Thomas Thiele: Um gegen Alphabets strukturelle Vorteile bestehen zu können, muss Sam Altman auf mehrere strategische Hebel setzen, die über reine Modellverbesserungen hinausgehen. Entscheidend wird sein, dass OpenAI sein eigenes Ökosystem entlang der gesamten vertikalen Wertschöpfungskette stärkt. Ein zentraler Ansatzpunkt ist der schrittweise Aufbau einer eigenen Infrastruktur. Kooperationen mit Broadcom, AMD und verschiedenen Cloud-Anbietern können dabei helfen, die Abhängigkeit von NVIDIA zu reduzieren und die erheblichen Kosten für GPU-Kapazitäten zu senken. Parallel dazu dürften vertiefte Partnerschaften mit Microsoft, Oracle oder weiteren Cloud-Providern eine wichtige Rolle spielen, um Reichweite, Verfügbarkeit und bessere Konditionen für Compute-Ressourcen sicherzustellen.

Gleichzeitig bleibt Modellinnovation ein zentraler Differenzierungsfaktor. Die beschleunigte Entwicklung der nächsten Generation – GPT-5 und darüber hinaus – wird darauf abzielen, Reasoning-Fähigkeiten zu verbessern, Halluzinationen weiter zu reduzieren und die Effizienz der Modelle zu steigern. Ergänzend kann OpenAI seine Positionierung schärfen, indem das Unternehmen jene Bereiche ausspielt, in denen es traditionell stark ist: Developer-Tools, kreative Workflows sowie Enterprise-Funktionen, etwa im Bereich Sicherheit, Compliance und Integrationen. Die Stärkung eines lebendigen Drittanbieter-Ökosystems rund um ChatGPT – inklusive Plugins, Tools und agentischen Anwendungen – kann langfristig eine Form von Lock-in erzeugen, die schwer zu substituieren ist.

Letztlich wird sich der Wettbewerb zwischen einem Best-of-Breed-Ansatz von OpenAI und einem Best-in-Class-Modell von Google entscheiden. Dabei lohnt ein genauer Blick auf die strukturellen Unterschiede beider Unternehmen. OpenAI startet aus einer Position, in der es zentrale Partner teilweise noch finden oder vertiefen muss. Alphabet hingegen verfügt über ein radikal integriertes Technologie-Ökosystem und eine ausgeprägte Abschaltkultur: Produkte, die nicht performen, werden eingestellt und bei Bedarf durch Zukauf ersetzt. Diese Flexibilität relativiert den Vorteil des Best-in-Class-Ansatzes, zeigt jedoch zugleich, wie hoch der Integrationsgrad im Google-Konzern bereits ist – und welchen Druck dies auf OpenAI ausübt.

Innerhalb welches Zeitraums wird sich entscheiden, ob OpenAI seine Position halten kann? Welche konkreten Entwicklungen werden die nächsten 12-18 Monate prägen?

Dr. Thomas Thiele: Die kommenden 12 bis 18 Monate werden entscheidend dafür sein, ob OpenAI seine derzeitige Führungsposition behaupten kann. Bis etwa Ende 2026 dürfte sich das Marktgefüge deutlich klarer abzeichnen. Während viele Privathaushalte ihre bevorzugten KI-Abonnements bereits gefunden haben, stehen zahlreiche Unternehmen erst am Beginn ihrer Implementierungsreise. Genau hier entsteht für Google eine strategische Opportunität: tief integrierte KI-Funktionen können direkt in bestehende Unternehmensprozesse einfließen, ohne dass Nutzer aktiv den Anbieter wechseln müssen.

Inhaltlich wird diese Phase durch mehrere Entwicklungen geprägt sein. Zunächst steht ein direkter Modellwettbewerb bevor: OpenAIs nächste GPT-Generation wird gegen weitere Ausbaustufen von Gemini antreten. Benchmark-Ergebnisse, reale Nutzungseindrücke und der qualitative Abstand zwischen den Modellen werden maßgeblich definieren, welche Plattform als technologischer Taktgeber wahrgenommen wird. Parallel dazu werden die Nutzerzahlen ein zentraler Indikator: Wie entwickeln sich die aktiven Nutzer von ChatGPT im Vergleich zur Nutzung von Gemini in Googles großflächig verankerten Produkten?

Auch die Dynamik im Enterprise-Segment wird von hoher Bedeutung sein. Für Unternehmen zählt, welches Modell sich in Cloud-Plattformen, Office-Suiten und branchenspezifischen Softwarelösungen durchsetzt – denn solche Integrationen wirken langfristig und schaffen faktische Bindungen. Eng verknüpft damit ist die Frage der Infrastruktur: OpenAIs Vorstoß in Richtung eigener Chips und dedizierter Compute-Cluster wird sich erstmals in Kosten, Skalierung und Geschwindigkeit messen lassen müssen. Gleichzeitig baut Google seinen TPU-Stack weiter aus, was direkten Einfluss auf Preise und Performance haben kann.

Schließlich werden Regulatorik und Vertrauen eine zentrale Rolle spielen. Neue KI-Regelwerke in der EU und den USA sowie öffentliche Debatten über Sicherheit, Datenschutz und Missbrauchspotenziale können einzelne Anbieter bremsen oder begünstigen. In Summe wird sich in diesem Zeitraum herauskristallisieren, ob OpenAI seine Position stabilisieren kann – oder ob sich das Machtverhältnis zugunsten von Alphabet verschiebt.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Thiele!

Dr. Thomas Thiele

Dr. Thomas

Thiele

Principal in der Innovation Practice

Arthur D. Little

Dr. Thomas Thiele ist verantwortlich für das AI Competence Center in Zentraleuropa. Zu seinen Haupttätigkeitsbereichen gehören Projekte zur digitalen Transformation, die Strategie und Umsetzung kombinieren, sowie Machine Learning und KI in „real-world“-Anwendungen.
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