Künstliche Intelligenz wird aktuell als Katalysator für Produktivitätssteigerung und Effizienzgewinn gehandelt. Die Hoffnung: Mit KI lassen sich nicht nur Prozesse automatisieren, sondern ganze Wertschöpfungsketten neu erfinden.
In der Praxis bleibt dieser Effekt bisher jedoch begrenzt. Laut einem aktuellen Gutachten des Instituts der deutschen Wirtschaft liegt das jährliche Produktivitätswachstum in Deutschland trotz zunehmender Digitalisierung und KI-Einsatz nur bei durchschnittlich 0,9 Prozent für den Zeitraum 2025 bis 2030 – kaum mehr als in den 2000er Jahren.
Der jüngste Fortschritt in der KI ist vor allem auf technische Entwicklungen zurückzuführen: leistungsfähigere Hardware, Cloud-Infrastrukturen und große Datenmengen, die über Data Lakes verfügbar gemacht werden. Diese Kombination ermöglicht erstmals die effiziente Nutzung komplexer KI-Modelle im betrieblichen Alltag.
Gleichzeitig rückt mit Agentic AI bereits die nächste Evolutionsstufe der KI in den Fokus: Systeme, die nicht nur analysieren, sondern auch eigenständig Entscheidungen treffen und Handlungen ausführen können. Diese Entwicklung ist zweifellos relevant – und doch steht sie im Kontrast zur betrieblichen Realität vieler Unternehmen. Denn während auf Konferenzen über autonome KI-Agenten diskutiert wird, fehlt in der Breite weiterhin eine belastbare digitale Infrastruktur. Prozesse sind oft unzureichend dokumentiert, Daten liegen fragmentiert vor, zentrale Systeme sind nicht integriert.
Hinzu kommt ein Missverständnis, das sich durch viele Digitalisierungsinitiativen zieht: Der Glaube, Technologie sei gleichbedeutend mit Transformation. Dabei entfalten KI-Systeme ihr Potenzial nur dann, wenn sie im richtigen Kontext eingesetzt werden – mit qualitativ hochwertigen Daten, klaren Zielbildern und strukturierten Prozessen. Fehlt dieser Rahmen, bleibt der Einsatz isoliert – oder verschärft bestehende Ineffizienzen.
Was also bringt KI, wenn die Voraussetzungen für ihren produktiven Einsatz fehlen? Und weitergedacht: Welche strukturellen und organisatorischen Änderungen sind nötig, damit technologische Fortschritte nicht ins Leere laufen?
Systemübergreifende Automatisierung mit Agentic AI
Agentic AI beschreibt KI-Systeme, die eigenständig Handlungen ausführen – von der Prozessautomatisierung bis zur Interaktion mit anderen Systemen. In technischer Hinsicht ist das längst Realität, etwa im Beschaffungsmanagement, wo autonome Agenten Bedarfe erkennen, Angebote einholen und Freigaben vorbereiten. Auch im Kundenservice übernehmen sie komplexe Eskalationen über mehrere Systeme hinweg – in strukturierter Abstimmung mit menschlichen Teams.
Das Potenzial solcher Anwendungen ist enorm, insbesondere dort, wo digitale Prozesse bereits klar definiert und durchgängige Systemlandschaften etabliert sind. Entscheidend sind dabei zwei Systemebenen: Systems of Record und Systems of Engagement. Erstere – etwa ERP-, CRM- oder HR-Systeme wie SAP, Oracle oder Workday – bilden das strukturierte Rückgrat eines Unternehmens. Sie speichern die zentralen, verlässlichen Daten: Bestellungen, Kundenstammdaten, Verträge, Buchungen. Systems of Engagement hingegen sind die Schnittstellen zur Interaktion – etwa Salesforce, ServiceNow oder Collaboration-Plattformen. Sie organisieren, wie Mitarbeitende oder Kunden mit diesen Daten arbeiten.
Moderne KI-Agenten können sich bei Bedarf über beide Ebenen hinweg bewegen. Sie lesen etwa in einem Engagement-System den Kontext einer Anfrage, greifen im Hintergrund auf relevante Daten im Record-System zu und lösen Folgeprozesse aus – vom Nachbestellen eines Artikels bis zum Erstellen eines Servicetickets. Die besondere Stärke liegt darin, dass sie nicht isoliert agieren, sondern Daten und Aktionen systemübergreifend kontextualisieren – und damit echte End-to-End-Automatisierung ermöglichen.
Ein Beispiel: Erkennt ein Agent im Engagement-System eine Abweichung im Bestellstatus, kann er direkt im ERP-System eine Prüfung auslösen, Rückfragen generieren und je nach Konfiguration Handlungsvorschläge machen oder ausführen. Damit entsteht ein durchgängiger Fluss – ohne Medienbrüche, manuelle Abgleiche oder separate Ticketsysteme.
Voraussetzung für den produktiven Einsatz von KI-Agenten sind dokumentierte, harmonisierte Prozesse und einheitlich zugängliche Datenquellen. In einigen Unternehmen – insbesondere mit modularen Cloud-Architekturen oder digital nativen Geschäftsmodellen – ist diese Basis bereits vorhanden. In der Breite jedoch, gerade im deutschen Mittelstand, zeigen sich nach wie vor erhebliche Defizite: Prozesse sind oft historisch gewachsen, Daten liegen verteilt in Insellösungen vor, zentrale Systeme sind nur begrenzt interoperabel.
Hinzu kommt ein oft übersehener Aspekt: technologische Schattenprozesse. Gemeint sind inoffizielle Tools, Workarounds oder manuelle Eingriffe, die außerhalb der offiziellen Systeme ablaufen – etwa Excel-gestützte Bestandslisten, lokale Automatisierungen oder individuell gebaute APIs. Sie mögen kurzfristig helfen, unterlaufen aber auf Dauer jede konsistente Automatisierung und entziehen sich dem Zugriff intelligenter Agenten.
Genau hier setzt der eigentliche Transformationsbedarf an. Denn Agentic AI ist kein Endpunkt, sondern ein Katalysator: Sie macht sichtbar, wo Reibungsverluste entstehen – etwa durch Medienbrüche, inkonsistente Stammdaten oder fehlende Prozessverantwortlichkeiten. Statt bestehende Strukturen zu ersetzen, skaliert sie deren Effizienz – vorausgesetzt, diese Strukturen sind tragfähig.
In der Realität vieler Unternehmen bedeutet das: Erst müssen Grundlagen geschaffen werden, bevor das volle Potenzial intelligenter Automatisierung ausgeschöpft werden kann.
Organisation und Mensch im Wandel
Technologie entwickelt sich schnell – schneller als Menschen, schneller als Organisationen. Während neue KI-Agenten immer mehr Aufgaben übernehmen können, arbeiten viele Unternehmen weiterhin in Strukturen, die für eine ganz andere Zeit entworfen wurden: mit klar getrennten Rollen, hierarchischen Entscheidungswegen und Prozessen, die stark segmentiert sind. Doch KI denkt nicht in Jobbeschreibungen – sie denkt entlang von Prozessen, ganzheitlich und skalierbar.
Gerade hier zeigt sich eine wachsende Kluft: Während Technologien immer mehr leisten, bleiben Rollenbilder, Zuständigkeiten und Entscheidungslogiken oft unverändert. Die Folge: Der Mensch wird nicht zum Problem – aber zum Engpass. Nicht, weil es ihm an Kompetenz fehlt, sondern weil bestehende Strukturen keine schnelle Anpassung ermöglichen.
Diese Dynamik führt dazu, dass Unternehmen neue Wege suchen, um mit dem Tempo Schritt zu halten. Eine der zentralen Entwicklungen ist dabei der Übergang von Labour Arbitrage zu Tech Arbitrage: Statt Aufgaben dort zu platzieren, wo sie günstiger erledigt werden können, liegt der Fokus zunehmend auf technologischen Lösungen, die skalierbar, konsistent und effizient integriert werden können – unabhängig von Ort und Verfügbarkeit personeller Ressourcen.
Der Gedanke dahinter: Wenn sich bestimmte Tätigkeiten durch Technologie abbilden lassen, können Unternehmen gezielt auf Lösungen setzen, die diese Logik bereits ab Werk mitbringen. Das entlastet interne Kapazitäten und hilft, Transformation zu beschleunigen – ohne erst langwierige Aufbauarbeit leisten zu müssen.
Doch auch Tech Arbitrage funktioniert nicht ohne Vorbereitung. Damit intelligente Lösungen wirksam werden, braucht es Klarheit: über Prozesse, über Datenflüsse, über das Ziel. Wer diese Grundlagen schafft, kann neue technologische Möglichkeiten produktiv nutzen. Wer sie ignoriert, skaliert das Chaos.
Fortschritt braucht Anschlussfähigkeit
Deutschland steht vor einer doppelten Herausforderung: Einerseits wächst der Handlungsdruck – wirtschaftlich, demografisch, strukturell. Andererseits stehen mit agentischen KI-Systemen erstmals Werkzeuge zur Verfügung, die über punktuelle Effizienzgewinne hinausgehen. Doch ob daraus tatsächlicher Fortschritt entsteht, ist keine Frage der Technologie – sondern der Fähigkeit, sie in bestehende Realitäten einzubetten.
In einem Land, dessen wirtschaftliche Stärke auf Ingenieurskunst, Prozesspräzision und gewachsenen Strukturen beruht, ist diese Einbettung anspruchsvoll. Denn KI verändert nicht nur Abläufe – sie fordert bestehende Steuerungslogiken heraus: Wer entscheidet? Wer verantwortet? Wer kontrolliert? Antworten darauf lassen sich nicht delegieren – sie müssen im Unternehmen selbst entstehen.
Der entscheidende Schritt besteht daher nicht darin, neue Tools einzuführen, sondern bestehende Strukturen anschlussfähig zu machen. Organisationen, die dazu bereit sind, werden technologische Fortschritte nicht nur umsetzen – sondern gestalten können. Alle anderen werden sich fragen müssen, warum die Produktivitätslücke bleibt, obwohl die Technologie längst da ist.