Früher galt uneingeschränkt: Wer Kapital hatte, hatte die Macht. Fabriken, Immobilien, Mitarbeitende, Infrastruktur wie individuelle Anbindung ans Schienennetz – ohne riesige Summen war kein großangelegter Markteintritt möglich.
Heute im KI-Zeitalter jedoch erleben wir eine tektonische Verschiebung. Kapital ist längst nicht mehr der (zentrale) Engpass. Entscheidend sind Geschwindigkeit, Beweglichkeit und die Fähigkeit, Technologie als Hebel zu nutzen.
Der zugrundeliegende Mechanismus lässt sich am einfachsten an einem Bild illustrieren:
Wer sich einen Pool in den Garten bauen will, kann versuchen, ihn mit den bloßen Händen auszuheben. Das dauert ewig, kostet Kraft und ist frustrierend. Mit einer Schaufel geht es schon schneller (Niederkomplexe Technologie). Mit einem Bagger erledigt sich dieselbe Aufgabe in einem Bruchteil der Zeit (Höherkomplexe Technologie). Mit einem halben Dutzend generativer Roboter geht das ganze dann von selbst und mein Rasen wird nebenher noch getrimmt und das Haus neu gestrichen (Hochkomplexe Technologie).
Technologie wirkt seit jeher wie ein Multiplikator für Entscheidungen. KI ist heute – und vielleicht jemals – der stärkste Multiplikator von allen.
Vom Feuerstein zu KI – Demokratisierende Technologie
Dieser Entscheidungshebel existiert seit den ersten Feuersteinen. Dieser ermöglichte Menschen, Feuer zu machen, wo sie sonst nur auf einen vom Blitz getroffenen Ast hoffen konnten. Dadurch hatten sie mehr genießbares Essen in weniger Zeit. Steigende technologische Komplexität eröffnet nun immer kleineren Gruppen bis hin zu Einzelpersonen Möglichkeiten, die vorher kaum großen, koordinierten Menschengruppen zur Verfügung standen.
So gesehen ist Technologiegeschichte auch eine stetige Geschichte der Demokratisierung. Im hyperdestillierten Zeitraffer heißt das:
- Analog-Zeitalter: Wer ein Unternehmen gründen wollte, Innovation vorantreiben wollte, brauchte Fabriken, Maschinen, Personal. Ohne massives Kapital war man praktisch chancenlos. Deshalb hatten selbst brillante Erfinder wie Nikola Tesla finanzstarke Mäzene hinter sich.
- Digital-Zeitalter: Mit der Digitalisierung und dem Internet fielen viele dieser Barrieren. Start-ups konnten mit vergleichsweise geringen Mitteln Software entwickeln und global skalieren. Aus dieser Phase stammen die Superstar-Unternehmen – Google, Facebook, Airbnb usw. – die ganze Märkte oft bis heute dominieren.
- KI-Zeitalter: Wir haben die nächste Stufe betreten. KI macht die Umsetzung einer immer größeren Zahl von Ideen so radikal einfach, dass Einzelpersonen ohne jede Erfahrung im Umsetzungsfeld mit einem Laptop (oder sogar nur einem Smartphone) Dinge bauen können, für die früher Teams von Spezialisten und Millionen an Investitionen nötig waren.
Der Effekt: Der Impakt pro Person pro Zeit wächst exponentiell. Die Risikokapitalfirma NFX hat dies zugespitzt als Vision des „3-Person-Unicorn-Startup“. Während die Digitalisierung einzelne Superstars hervorgebracht hat, erleben wir nun eine Supernovae-Phase: Millionen winziger “Tiny” Teams oder sogar Einzelpersonen können mit schlagartiger Wucht sichtbar werden, Märkte verändern – und das in einer Geschwindigkeit, die traditionelle Organisationen und Strukturen überfordert. Mit Azeem Azhar: Die Exponentiallücke wächst in dramatischer Geschwindigkeit.
Beispiel: Der Probleminhaber
Besonders deutlich wird dieser Paradigmenwechsel am Beispiel einer Einzelperson – nennen wir sie den Probleminhaber. Dieser Begriff ist deshalb so gewählt, weil der Problemlöser unbedingt “von innen” auf das Problem schauen muss, also derart davon selbst betroffen sein, dass die Lösung ihm als erstes spürbar hilft. Ihm muss das Problem quasi selbst “gehören”, statt als Zaungast von einer Lösung zu sprechen, die jeder mit dem tatsächlichen Problem ggf. nur augenrollend zurücklässt. Über den Hebel von KI-Technologie hat er oder sie heute mehr Chancen dazu, als je zuvor:
1. Ausgangspunkt: Er oder sie ist selbst vom Zielproblem betroffen und damit hoch motiviert, eine Lösung zu finden. Der „Market of One“, ein Markt mit einem garantierten Kunden, man selbst, entsteht.
2. Marktzugang: Gleichzeitig hat er oder findet er KI-unterstützt leicht Kontakt zu einer relevanten Community – ob über LinkedIn, Reddit, andere Foren oder ein lokales Netzwerk. Die Problemlösung ist damit nicht mehr nur individuell, sondern potenziell skalierbar. Minimal Viable Products (MVPs) bilden die Brücke vom Market of One zur Lösung für eine skalpellspitzenpräzise Mikrozielgruppe.
3. Ressourcen: Kapital? Hilfreich, aber nicht notwendig. Ein Laptop oder Smartphone, ein paar moderne KI-Tools wie Cursor oder Bolt, vielleicht ein Probemonat bei einem SaaS-Anbieter – mehr braucht man zum Start meist nicht. Der Rest ist ein Problemverständnis und schnelles Iterieren.
4. Fähigkeiten: Der Probleminhaber versteht die Grundlagen, aber muss kein Full-Stack-Entwickler, Marketer oder Designer sein. KI hilft beim Umsetzen, Korrigieren und Validieren. Entscheidend ist die Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen und Ergebnisse kritisch zu prüfen. Natürlich gilt: Je mehr Expertise man im Bereich, in dem das zu lösende Problem ist, besitzt, desto besser.
5. Struktur: Anstatt planlos zu werkeln, folgt er einem einfachen Vorgehen – Pretotyping, MVP, Nutzerfeedback. Und selbst diese Struktur kann ihm eine KI liefern, wenn nötig. Man muss sie buchstäblich nur fragen.
Das Resultat: Ein funktionierender Prototyp in Stunden oder Tagen, nicht in Monaten oder Jahren. Wenn richtig eingewoben, gibt es sogar schon erste Nutzer, erste Rückmeldungen, vielleicht schon erste Umsätze – und das nahezu ohne Kosten. Während man einen Skill gelernt / vertieft hat, der bereits für sich allein enorm wertvoll ist.
Die kritische Schwelle: Von Idee zu Markterfolgen
Im Zwielicht zwischen Idee und Prototyp entscheidet sich: Erfolg oder Scheitern. Das ist die Phase, an der die meisten Projekte zerbrechen. Früher dauerte sie Monate, verschlang Budgets und Teams. Mit KI lässt sie sich radikal verkürzen.
Nicht umsonst gibt es das geflügelte Wort “Ideas are worthless – execution is everything”. Die wenigsten finanzieren schöne Ideen, aber die meisten schauen auf Nutzerzahlen, Wachstumsgeschwindigkeit, Marktresonanz. Kapital fließt erst, wenn Traction da ist. KI verschiebt das Kräfteverhältnis, weil sie den härtesten Teil – den Schritt von Null zu den ersten funktionierenden 80 Prozent – massiv beschleunigt.
Implikationen für IT-Entscheider
Für IT-Entscheider haben diese Entwicklungen und Verwerfungen enorme Konsequenzen, denen sie adäquat entgegnen müssen. Hilfreich können dabei z. B. sein:
- Demokratisierung ermöglichen: KI-Tools müssen breit zugänglich sein, nicht nur für ausgewählte Spezialisten.
- Geschwindigkeit sichern: Governance ist nötig, darf aber nicht zum Innovationskiller werden.
- Strukturen für schnelles Prototyping schaffen: Teams brauchen Freiräume, um Pretotypes und MVPs zu testen, bevor große Budgets genehmigt und lange Entscheidungszyklen losgetreten werden.
- Neue Rollen definieren: Der CIO ist nicht länger Gatekeeper, sondern Enabler – jemand, der die Organisation befähigt, Technologie als Entscheidungsmultiplikator einzusetzen. Ggf. ergibt ein KI-Manager im Unternehmen Sinn. Usw.
Fazit
Kapital war einmal die härteste Währung im Wettbewerb. Heute ist es ein nachgelagerter Skalierungsfaktor. Von Platz eins mit gigantischem Abstand zur konkurrierenden Top 5. Rapide relevanter gewordene Erfolgsgrößen sind Geschwindigkeit, Validierung und der Einsatz von KI als Multiplikator. Wir stehen am Beginn einer Supernova-Phase: Einzelpersonen und “Tiny Teams” können mit Hilfe von KI eine Strahlkraft entfalten, die früher nur milliardenschweren Konzernen vorbehalten war.
Wer als Entscheider diesen Hebel nicht freigibt, riskiert, dass kleine, wendige Player an ihm vorbeiziehen – im Extremfall in Tagen statt wie bisher in Jahren.