Digitalisierung! Doch wie anfangen? | Interview

Ohne Digitalisierung geht es nicht. Darüber herrscht branchenübergreifend längst Konsens. Über die Herangehensweise dagegen nicht. Doch genau diese entscheidet nicht selten über Erfolg und Misserfolg und sorgt daher nach wie vor für Zurückhaltung unter den Verantwortlichen vieler mittelständischer Fertigungsunternehmen.

Volker Altwasser, Senior Management Consultant der expertplace networks group AG, berät und begleitet Produktionsunternehmen im Thema digitale Transformation und weiß, wo die Fallstricke lauern. Die Redaktion von it-daily hat ihn befragt.

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Herr Altwasser, die Digitalisierung geht in Deutschland langsam aber sicher voran. Wo stehen wir Ihrer Ansicht nach?

Volker Altwasser: Das kommt in erster Linie auf die Branche und dann nachgelagert auf die Unternehmensgröße an. Internationale Industriekonzerne gehören klassisch zu den Early Birds der Entwicklungen und sind schon lange durch den globalen Markt gezwungen, ein Höchstmaß an „Digitalisierung“ allein für den Klassenerhalt in den weltweiten Wertschöpfungsnetzwerken zu nutzen. Persönlich würde ich die Pharma-Produzenten und Automobilzulieferer und – Hersteller als die Vorreiter bezeichnen. Nehmen Sie hier die Anforderungen der Just-In-Sequenz Fertigung als Beispiel. Muss ein Unternehmen dieser Beschaffungslogistik folgen und JIS-orientiert produzieren und liefern, sind enorme Aufwände notwendig, um Echtzeitdaten aus der Produktion zu erhalten. Kleinere Unternehmen, die weniger Druck durch hohe Produktionszahlen und/oder Kundenverbindungen verspüren, können sich noch (!) etwas weniger von allem (IoT, Vernetzung, Transparenz) leisten. Dies aber auch nicht mehr lange.

Warum glauben Sie, geht es insgesamt nicht noch viel schneller?

Volker Altwasser: Da sehe ich unterschiedliche Ursachen im Fokus. Zum einen haben einige Unternehmen immer noch erhebliche Ressentiments gegenüber Veränderungen – egal welcher Art. Da ist die Digitalisierung nur ein Stellvertreterschauplatz. Ihnen macht Veränderung Angst oder sie wollen sie schlichtweg nicht. Sie möchten, dass alles bleibt, wie es ist. Ihnen kann man wenig raten, da sie ihren eigenen Weg gehen werden – auch wenn der möglicherweise in die Sackgasse führt.

Andere wiederum wissen nicht abschließend, was Digitalisierung überhaupt bedeutet. Sie denken, weil sie die Buchhaltung in einem Softwaresystem machen und die Urlaubsbuchungen zentral erfassen, sind sie schon fertig mit dem Thema „Digitalisierung“. Dass dem nicht so ist, ist ein längerer Erkenntnisprozess, der aber umso wirksamer ist, wenn man den Kunden aufzeigt, dass es einen Unterschied zwischen Automatisierung und Digitalisierung gibt. Die Automatisierung, die schon vor Jahrzehnten ihren Anfang nahm – meint beispielsweise die Integration von ERP-Systemen oder die Nutzung von Workflow-Tools für Urlaubsanträge oder Raum- und Ressourcenbuchungen. Digitalisierung ist vielmehr. Digitalisierung ist zum Beispiel, wenn der Fahrstuhl von allein mit den Handwerkern kommuniziert und sich Termine für seine Wartungsfenster bedarfsbezogen bucht, weil er weiß, dass in zwei Wochen ein Teil ausfällt. Und woher weiß er das? Weil es ihm das Teil „gesagt“ hat. Das ist keine Zukunftsmusik, das ist die Realität im Internet der Dinge und nennt sich predicitve maintenance. Dies verständlich zu machen und aus diesem Verständnis heraus echte Digitalisierungsoptionen mit entsprechenden Maßnahmenpaketen abzuleiten ist unsere Aufgabe als Berater.

Dann gibt es noch eine dritte Gruppe: Das sind jene, denen die Notwendigkeit bewusst ist, die aber nicht wissen wie und wo sie anfangen sollen. Hier kommt es darauf an, mögliche Startszenarien zu skizzieren, damit der erste Schritt getan werden kann.

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Was wären denn aus Ihrer Sicht mögliche und sinnvolle Startszenarien?

Volker Altwasser: Vorweggesagt, mit der klassischen Vorgehensweise „Bauen fängt mit Klauen an“ kommt man bei der Digitalisierung nicht ganz so weit. Es ist einfach Vorsicht geboten: Da jede Organisation ihre individuellen Rahmenparameter aufweist, kann beispielsweise eine Me-too-Strategie in die Sackgasse führen statt auf Augenhöhe mit dem Mitbewerb.

Als ein erster, allgemeingültiger Schritt kann beispielsweise eine von allen Fachabteilungen und der Unternehmensleitung getragene Zielvorgabe erstellt werden. Damit diese Bestand hat, sollten im Vorfeld Fragen wie „Was will ein Unternehmen mit der Digitalisierung erreichen? Welche Vor- und welche Nachteile werden sich dadurch ergeben? Und vor allem: Welche Chancen und Risiken schlummern auf dem Weg zum Ziel?“ grundlegend, zukunftsorientiert und belastbar beantwortet werden.

Dabei hilft es sehr, eine einfache und ehrliche Standortbestimmung im Unternehmen durchzuführen. Ob allein oder mit Hilfe von externen Beratern: Es muss zunächst beispielsweise der aktuelle Automatisierungsgrad der Fertigungsprozesse festgestellt werden. Das Management kann so erkennen, an welcher Stelle aufgesetzt werden kann und wo mitunter sogar noch Basisarbeit geleistet werden muss. Ich habe zum Beispiel ein Unternehmen kennengelernt, was nach einer solchen Prüfung feststellen konnte, dass es lohnenswerter ist, den gesamten Maschinenpark auszutauschen. Anders als Stück für Stück einen diversifizierten Maschinenpark „retro-fit“ auszustatten, konnte eine neue Fabrik nach nur 8 Monaten und einer Investition von knapp 200 Mio. EUR den vollumfänglichen digitalen Betrieb aufnehmen und hat sich so von „jetzt auf gleich“ vom Mitbewerb absetzen können.

Parallel zu den Aktivitäten im Innenverhältnis sind Think Tanks aus allen Fachbereichen dazu anzuhalten, Kunden und Lieferanten in kreative Denkansätze einzubeziehen. Es gilt dabei, die Chancen und Risiken am Markt zu entdecken, die bisher bewusst oder unbewusst genutzt oder unangetastet blieben. Es gibt genug Beispiele, bei denen Unternehmen nach einer solchen Prüfung das gesamte Geschäftsmodell verändert haben und gar vom Produzenten zum Händler wurden, weil Handelsmargen, einbehalten über den Betrieb eines digitalen Marktplatzes viel höher lagen, als sich dem Wettbewerb der Produzenten weiterhin auszusetzen.

Im nächsten Schritt müssen nun der Status Quo der Fertigung und die Ideen und Anforderungen des Geschäftes miteinander in Einklang gebracht werden. Dies funktioniert in der Regel sehr gut über eine strukturierte Programm-Planung und die Nutzung klassischer Management Systeme wie z.B. der BSC (Balanced Scorecard). Nach Nutzen und Kosten bewertete messbare Ziele werden klassisch über Projekte und deren Maßnahmen erreicht und Erfolge gemessen. Das ist keine Raketenwissenschaft – natürlich immer vorausgesetzt, dass man als Unternehmen weiß, was man erreichen will. Bei der Analyse der Digitalisierungspotenziale sollten Unternehmen übrigens durchaus ein wenig mehr Zeit einplanen. Denn sind die Steine erst einmal umgedreht, treten meist Überraschungen zu Tage…

Welche „Überraschungen“ sind das in der Regel und wie lassen Sie sich vermeiden?

Volker Altwasser: Grundsätzlich kann es im Zuge der Digitalisierungsbestrebungen entweder zu positiven oder negativen Überraschungen kommen. Die Erfahrung zeigt, dass erst bei genauem Hinsehen Potenziale, die niemand zuvor auf dem Zettel hatte, aufgedeckt werden können. Diese, nennen wir sie „Diamanten“, liegen auch nicht mitten auf der Straße und glänzen meist erst nach dem Schleifen. Also ist es enorm wichtig, eine Organisation am Scheideweg nicht zu sehr mit der Erwartung von kurzfristigen Erfolgen zu lähmen. Will man z.B. die berühmten „neuen Märkte“ entdecken, die sich auf einmal erschließen würden, wäre man „digitalisiert“, ist Besonnenheit und Scharfsinn gefordert. Beides ist unter Zeitdruck nur schwer zu leisten.

Eine der Überraschungen die Unternehmen häufig erleben, ist die, dass die Geschwindigkeit mit der die Technologie entwickelt wird ist weit höher als die der Einsatzmöglichkeiten. Lässt man sich also in den Technologie-Sog ziehen, findet man sich schnell kopfüber im Chaos wieder und hat den Überblick über Nutzen und Kosten der Entwicklungen und Maßnahmen im Unternehmen schnell verloren.

Überhaupt werden die Mehrwerte der Digitalisierung häufig falsch eingeschätzt. So passiert es häufig, dass Social Media Kampagnen – fälschlicherweise als Digitalisierungsvorhaben bezeichnet – völlig überbewertet werden und auf der anderen Seite der Einsatz eines digitalen Planungswerkzeuges für die gesamte Supply Chain ins Hintertreffen gerät – nur weil sich das Management gerne auf Facebook oder Twitter finden möchte.

Die Lösung des Problems liegt in der Zusammensetzung der Entscheider-Teams: Es sind hier ebenso kreative Enthusiasten wie bodenständige Mathematiker gefragt, wobei die digital natives (also junge, digital aufgewachsene Kollegen) eine entscheidende Rolle spielen müssen. Sind sie es doch, denen die Zukunft des Unternehmens „gehört“. Alle zusammen sollte dann noch ein Ziel oder ein gemeinsamer Wunsch antreiben: der Drang nach Veränderung in eine positive digitale Zukunft.

Lohnt sich der ganze Aufwand überhaupt? Was sind aus Ihrer Sicht die größten Chancen, die sich aus der Digitalisierung ergeben?

Volker Altwasser: Gerne würde ich Ihnen nun sagen: Die größte Chance liegt vor allem darin, an Effizienz zu gewinnen und dem Wettbewerb auf diese Weise vorauszueilen. Das trifft es aber nur bedingt. Denn der ganze Aufwand ist vielmehr ein MUSS, da wir auf der Schwelle ins digitale Zeitalter stehen. Die Frage ist also eher, ob ein Unternehmen es sich leisten kann, wenn die Tür vor und nicht nach deren Überschreiten zufällt.

Digitalisierung ist in meinen Augen mit der Erfindung und dem Einsatz der Dampfmaschine vergleichbar. Hat damals jemand gefragt, ob sich der Aufwand lohnt? Nein.

Um also Ihre Frage zu beantworten: Ja, der Aufwand lohnt sich, allein aus Gründen der Selbsterhaltung. Wer nicht mit Verstand und Willen digitalisiert, wird seine Bedeutung verlieren.

Worin liegen die größten Risiken, wenn ein Unternehmen die Digitalisierung zum Beispiel verschläft?

Volker Altwasser: Die Risiken sind sehr vielschichtig. Ich will gern versuchen, sie in der Reihenfolge der Eintrittswahrscheinlichkeit auf den Punkt zu bringen:

  • Stagnation im Bereich Produkt- und Qualitätsmanagement
  • Sinkende Attraktivität für globale Wertschöpfungsnetzwerke
  • (Massive) Umsatzeinbrüche bis hin zu Verlusten von Marktanteilen
  • Verlust der Marktführerschaft
  • Verlust des Wirtschaftsstandorts D

Fünf verständliche Punkte, aber damit nicht weniger gefährlich!

Wenn es heute noch Entscheider gibt, die denken, sie könnten sich ein „Nickerchen“ gönnen und die „Digitalisierung“ ist dann weitergezogen, so ist das mindestens grob fahrlässig.

Leider hat sich Europa und ganz besonders Deutschland schon lange genug auf den traumhaften Exporterlösen der letzten Jahre ausgeruht, ohne sich weiter auf den globalen Wettbewerb vorzubereiten. Wir vergessen dabei, dass „Made in Germany“ schon lange nicht mehr so eine Bedeutung hat wie vor 10 Jahren. Wir vergessen dabei weiterhin, dass die Welt rund und die Globalisierung nicht aufzuhalten ist. Arbeitskräfte sind in anderen Teilen der Welt einfach günstiger und techologische Entwicklungen lassen sich überall auf der Welt nutzen.

War es nicht genau diese Erkenntnis, die die Bunderegierung dazu „gezwungen“ hat, die industrielle Revolution auszurufen und zu fördern? Wenn es also Deutschland nicht ebenso ergehen soll wie zum Beispiel Großbritannien, MÜSSEN sich die Unternehmen hierzulande schneller bewegen. Die meisten haben dies zum Glück erkannt und versuchen nun aufzuholen.

Was raten Sie den Unternehmen mit Blick auf die Digitalisierung?

Volker Altwasser: Anfangen! Einfach anfangen! Und zwar mit Ziel und Linie. Damit letzteres gewährleistet ist, können – und das sage ich ganz uneigennützig – externe Berater einen guten und wichtigen Dienst leisten. Doch auch hier ist Achtung geboten! Viele springen auf den Zug „Digitalisierung“ auf, weil sie hier das große Geld wittern. Helfen können sie hingegen wenig. Das ist bei so großen Technologiewenden nicht neu. Ähnliche Szenarien konnten wir schon in der Vergangenheit beobachten, etwa in der Internetblase. Darum sollten Unternehmen und Behörden genau hinschauen, wem sie ihr Vertrauen schenken.

Mal ganz weit in die Zukunft geschaut: Was glauben Sie, kommt nach der Digitalisierung?

Volker Altwasser: Die Matrix? Die Machtübernahme der Maschinen? Alles ist denkbar. Ich gebe zu, ein Science-Fiction Fan zu sein, der noch immer Freude daran hat, die Pfeile für seinen Bogen aus dem Haselnusszweig im Garten zu schnitzen und nicht den 3D Drucker programmiert.

Wenn Sie mich fragen, was ich mir wünsche, fällt mir die Antwort leicht: die friedliche Koexistenz von hochdigitalisierten Fabriken in denen der Mensch trotzdem seine Wertigkeit und seinen Arbeitsplatz behält mit dem guten alten Handwerk und der kleinen Manufaktur für das Schöne und Besondere. Und ich wünsche mir, dass die Digitalisierung nicht zu dem Monster wird, dass einige „Experten“ jetzt schon sehen wollen.

www.expertplace.de
 

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