Jedes Jahr schaffen es unzählige Fachkräfte in die Managementebene. Für viele ist dies ein bedeutender Karriereschritt, der Türen zu mehr Verantwortung und Gestaltungsspielraum öffnet.
Doch die ersten Monate im neuen Amt sind häufig schwieriger, als erwartet. Während die Erwartungen von oben und vom Team hoch sind, fehlt es oft an klarer Anleitung.
Gerade in dieser Phase greifen frisch beförderte Führungskräfte gern auf gängige Ratschläge zurück – manche davon sind allerdings trügerisch. Fachleute wie Dr. Ryne Sherman von Hogan Assessments, einem Unternehmen für Persönlichkeitsdiagnostik, warnen vor drei besonders verbreiteten Missverständnissen.
Die Falle der übertriebenen Offenheit
Moderne Ratgeber betonen gern, wie wichtig es sei, „verletzlich“ aufzutreten – sprich, Gefühle offen zu zeigen und die eigene menschliche Seite nicht zu verstecken. In Maßen kann das Vertrauen fördern. Doch zu viel davon kehrt den Effekt ins Gegenteil um.
Wenn Vorgesetzte ihre Emotionen ungebremst mit dem Team teilen, verschwimmen schnell die professionellen Grenzen. Mitarbeitende fühlen sich dann weniger als Fachkräfte, sondern eher als private Zuhörer oder gar unfreiwillige Therapeuten. Studien der EU-OSHA zeigen, dass emotionale Anforderungen ohnehin schon eine starke Belastung darstellen. Führung verlangt daher nicht nur Empathie, sondern auch emotionale Selbstkontrolle.
Authentizität ohne Filter
„Sei einfach du selbst“ klingt zunächst nach einem guten Rat. Doch nicht jedes persönliche Verhalten passt in eine Führungsrolle. Wer sich ungebremst so gibt, wie er oder sie „authentisch“ ist – sei es gereizt, überkritisch oder ungeduldig –, riskiert Chaos im Team.
Echte Führungsqualität zeigt sich nicht darin, jede Emotion und jeden Impuls auszuleben, sondern darin, die eigene Wirkung bewusst zu steuern. Mitarbeitende brauchen vor allem Verlässlichkeit und Orientierung. Gallup-Studien weisen ohnehin darauf hin, dass nur ein kleiner Teil der Beschäftigten in Europa sich wirklich eingebunden fühlt. Ungefilterte Authentizität kann dieses Problem noch verstärken.
Charisma als trügerische Stärke
Charisma kann Türen öffnen: Es zieht Aufmerksamkeit an, motiviert kurzfristig und wirkt überzeugend. Doch Ausstrahlung allein ist kein Garant für nachhaltige Führung.
Eine Untersuchung unter Leitung der Universität Lausanne ergab, dass charismatische Führungskräfte häufig Defizite in Entscheidungsstärke und langfristiger Teamleistung aufweisen. Mit anderen Worten: Wer sich zu sehr auf Wirkung und Präsenz verlässt, übersieht leicht die Notwendigkeit von Planung, Konsistenz und Verantwortungsbewusstsein. Charisma kann glänzen – aber oft nur wie ein Strohfeuer.
Zwischen Erwartungsdruck und Realität
Der Start in eine Führungsposition gleicht für viele einem Balanceakt. Die gängigen Schlagworte – Offenheit, Authentizität, Charisma – sind nicht grundsätzlich falsch. Doch ohne Maß und Reflexion werden sie schnell zum Stolperstein.
Dr. Ryne Sherman bringt es auf den Punkt: Gute Führung bedeutet nicht, jedes Modewort ungefiltert zu leben, sondern bewusst zu entscheiden, welche Rolle man einnimmt – und welche nicht.