Interview

„Eigene Rechenzentren sind absoluter Irrsinn!“

SAP

Bis 2027 müssen Unternehmen und Organisationen von ihrem „alten“ SAP-System R/3 zum neuen System S/4 HANA wechseln. Ab dann werden ältere Systeme nicht mehr von SAP unterstützt. Benjamin Herrmann, Geschäftsführer der Stuttgarter TechCon-Schmiede Zoi verrät im Interview, welche Hürden lauern und wie der Wechsel doch noch gelingen kann.

Welche Fragen müssen Entscheiderinnen und Entscheider in Bezug auf den Wechsel R/3 auf S/4 HANA jetzt klären?

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Benjamin Herrmann: „Jetzt“ ist schon einmal ein gutes Stichwort! Es sind zwar noch knapp viereinhalb Jahre, bis der Support für R/3 ausläuft – für viele Unternehmen ist es aber „jetzt“  wichtig, den richtigen Zeitpunkt für sich zu klären, da der Aufwand beim Wechsel R/3 auf S/4 den Rahmen eines klassischen IT-Großprojekts sprengt. Der Wechsel auf S/4 hat Programm-Charakter und ist, was Zeit und Investment angeht, unglaublich fordernd. Er hat zudem einen massiven Impact auf das Unternehmen – nicht nur, wenn er einmal abgeschlossen ist, sondern vor allem währenddessen. Vom Start der Ausschreibung bis zur Auswahl des Dienstleisters können je nach Unternehmensgröße auch schon zwölf Monate ins Land gehen. Bis das Cloud-Design erstellt ist, sind es wieder zwei bis sechs Monate, je nachdem, wie flexibel sich die IT-Abteilungen zeigen. Klären sollten Entscheiderinnen und Entscheider also den frühestmöglichen Zeitpunkt, den Umzug anzustoßen. Den Schritt, mit dem Wechsel von R/3 auf S/4 gleich in die Cloud zu gehen, kann ich da nur dringend empfehlen, da das eigene Rechenzentrum kaum für zwei parallel laufende Systeme mit jeweils einem gigantischen Speicherbedarf ausgelegt sein dürfte. Weiterhin sollten sich die Verantwortlichen bereits frühzeitig überlegen, ob sie sich für den Greenfield-Ansatz mit möglichst vielen Standard-Lösungen entscheiden. Aus unserer Erfahrung können wir sagen, dass selbst mit einem Top-Beratungsunternehmen rund die Hälfte der IT-Mitarbeitenden über Jahre in den Wechsel eingebunden sind.

Warum ist die Cloud die bessere Infrastruktur-Alternative?  

Benjamin Herrmann: Alleine schon von den Kosten und der Skalierbarkeit her gesehen, schlägt die Public Cloud jedes Rechenzentrum. Wer mehr Kapazitäten braucht, bucht sie per Mausklick einfach dazu. Unternehmen sparen sich zudem nicht nur die Kosten für das physische System, sondern können ihr Personal an sinnvolleren Stellen einsetzen. Ein Großteil der cyber-security-relevanten Dinge fällt durch die gemanagten Systeme ebenso einfach weg, beispielsweise das Patch-Management. Der Wechsel auf S/4HANA ohne Cloud ist absoluter Irrsinn und am eigenen physischen Rechenzentrum festzuhalten ist schlichtweg verbranntes Geld! Nach dem Klären des „Wann?“ ist also das Klären des „Wie?“ genauso wichtig, aber es kann nur sein: „Wie geht es am sinnvollsten in der Cloud?“ 

Ein weiterer Vorteil der Cloud ist, dass sich innerhalb kürzester Zeit Sandkasten-Systeme bauen lassen, um Lösungen auszuprobieren, zu verwerfen oder einzusetzen. Oder etwa, um Produktivsysteme einfach zu klonen – per Knopfdruck. Ein letzter Vorteil: Die Public-Cloud ist eine der besten Bereinigungen für das ganze SAP-System, mit all den bisher zusätzlichen Lösungen, die im und rund um den Core programmiert worden sind, und die seit Jahren einfach mitgeschleppt werden, nur weil es schon immer so gemacht wurde.

Welche Hürden lauern beim Wechsel?

Benjamin Herrmann: Die größte Hürde ist die Unwissenheit im Unternehmen. Die IT-Verantwortlichen sind in der Pflicht, den für das Unternehmen besten Weg einzuschlagen. Das heißt, auszuwählen, welche Prozesse und insbesondere welche der Customized-Prozesse wie überführt werden sollen. Und es bedeutet, ganz pragmatisch, dass rechtzeitig ein Budget beantragt werden muss, um den Wechsel anzugehen. Die zweite Hürde liegt im Management, das das Budget freigeben muss. Das Management im Allgemeinen operiert seit Jahren im Krisenmodus. Hier jetzt das Budget freizugeben, braucht ein hohes Maß an Weitsicht und Vertrauen, gerade, wenn die aktuelle Krise eher das Sparen empfiehlt. 

Die Hürden beim Wechsel selbst sind so mannigfaltig, dass ich sie gar nicht alle nennen kann. Es beginnt bei der Auswahl des richtigen Dienstleisters und geht über die Tatsache, dass fast die Hälfte der IT-Spezialisten zwischen zwei und acht Jahren mit dem Wechsel auf S/4 beschäftigt sind. Zudem: Rechenzentren verdienen ihr Geld mit ihren Kunden. Folglich würde sie nur ungern Kunden in die Cloud verlieren. Wer also von seinem Rechenzentrum-Dienstleister noch nichts gehört hat, sollte stutzig werden. 

Welche Kapazitäten gibt es derzeit noch im Markt?

Benjamin Herrmann: Eine besondere Situation ist durch den Krieg in der Ukraine eingetreten. Viele Unternehmen sind verunsichert und haben sich einen Sparkurs verordnet. Das schafft zwar vorübergehend Kapazitäten, erhöht jedoch den Termindruck beim späteren Wechsel. Kleinere IT-Beratungen mit vielen Kapazitäten werden sich immer finden, spezialisierte und zertifizierte Beratungsunternehmen hingegen finden sich nicht ganz so schnell. Sie sind jedoch bei den großen Public-Cloud-Anbietern gelistet und einsehbar. Dafür müssten die Verantwortlichen allerdings wissen, wo sie nachschauen können.  Was die Kapazitäten der Cloud-Native-Experten angeht, würde ich schätzen, dass es langsam eng wird. 

Was ist bei der Dienstleisterauswahl zu beachten?

Benjamin Herrmann: Es ist wie im Gesundheitswesen – beim Spezialisten ist man zumeist am besten aufgehoben. Empfehlenswert ist es, bei der Dienstleisterauswahl auf eine langjährige Erfahrung und eine lange Reihe von Cloud-Partnerschaften – im besten Fall Gold-Partnerschaften – zu achten. Generell wird im Markt an einigen Stellen schnell viel versprochen und wenig gehalten. Wir haben einen eigenen Arbeitskreis, der Firmen auffängt, bei denen der Wechsel in die Cloud mit ihrem ersten Dienstleister nicht geklappt hat. Es hat etwas von einer psychologischen Betreuung, denn die Folgen für ein Unternehmen, das viel Geld für eine desaströse Beratung und fehlerhafte Umsetzung gezahlt hat, sind oft dramatisch. Für bestehende Dienstleister gilt: Wer seinen Kunden, ob IT-Dienstleister oder Rechenzentrum, noch nicht zum Wechsel von R/3 auf S/4 in der Cloud geraten hat, verfolgt eher eigene Interessen.  

Welche Auswirkungen sind zu den Themen SAP- und Softwareumstellungen noch zu erwarten?

Benjamin Herrmann: Es gibt ein Zitat, das Marc Andressen, dem Mitgründer von Netscape,  zugeschrieben wird: „Software is eating the world”. Und es stimmt einfach: Die Unternehmen fangen gerade an zu verstehen, dass zukünftig alles mit Software gemacht wird. Das reduziert einfach die Komplexität der Produkte und vereinfacht vieles. Es ist dann nicht mehr die Frage, ob der Fahrersitz eine Sitzheizung bekommt oder nicht. Es ist eine reine Frage der Software, ob die Sitzheizung angesteuert werden kann oder nicht. Es vereinfacht zudem die Frage, was es kostet, die Sitzheizung nachzurüsten. Es ist ähnlich wie in der Cloud: Zusätzliche Leistungen gibt es wieder per Mausklick.  

Benjamin

Hermann

Zoi TechCon GmbH -

Geschäftsführer

Ursprünglich aus der Softwareentwicklung und Architekturberatung kommend, beschäftigt Benjamin Hermann sich seit 2012 mit der Public Cloud und deren Anwendungsmöglichkeiten für die Industrie und Enterprise-IT.
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