Viele europäische Cloud-Angebote versprechen Unabhängigkeit, doch echte digitale Souveränität verlangt mehr als ein Rechenzentrum in der EU. IT-Verantwortliche müssen technologische Abhängigkeiten strategisch bewerten und aktiv managen.
Der Begriff „digitale Souveränität“ ist in vielen IT-Strategien angekommen, nicht zuletzt durch die Diskussion um Cloud Act, Gaia-X und NIS-2. Doch was bedeutet er konkret im Unternehmensalltag? Reicht es aus, auf einen europäischen Cloud-Anbieter zu setzen? Oder einen DSGVO-konformen Vertrag zu unterschreiben?
Die Realität ist komplexer. Technologische Abhängigkeiten entstehen nicht ausschließlich durch Anbieterwahl, sondern auch durch Systemarchitektur, API-Design, Hostingmodell, Serviceintegration und Vertragsstruktur. Wer Systeme nutzt, die sich operativ oder rechtlich nur begrenzt kontrollieren lassen, verliert unter Umständen Flexibilität und regulatorische Handlungsfähigkeit. Damit laufen sie Gefahr, in Krisensituationen oder bei geopolitischen Spannungen nicht handlungsfähig zu sein.
Standort allein sichert keine digitale Souveränität
Ein weit verbreitetes Missverständnis: Ein europäischer Serverstandort wird mit vollständiger Datenhoheit gleichgesetzt. In der Praxis liegt der Anbieter-Hauptsitz jedoch nicht selten in den USA oder es greifen vertragliche Konstrukte, die Datenzugriffe nicht vollständig ausschließen. Auch wenn Standardvertragsklauseln und technische Schutzmaßnahmen implementiert sind, bleiben die Fragen: Wer kontrolliert die Infrastruktur wirklich und in welchem Umfang? Und wer hat im Zweifelsfall Zugriff auf Daten?
Insbesondere bei zentralen Elementen wie Kundendatenplattformen oder Tracking-Diensten verlieren Unternehmen schnell die Kontrolle. Systeme werden als Black Boxes betrieben, Schnittstellen sind undokumentiert oder lassen sich nicht unabhängig auditieren. Ohne übergreifendes Monitoring und klare Integrationsrichtlinien droht ein langfristiger Kontrollverlust, sowohl technisch, als auch organisatorisch.
Versteckte Abhängigkeiten durch APIs und Integrationen
Technologische Abhängigkeiten entstehen häufig unbemerkt. In modernen Cloud-Umgebungen greifen dutzende Komponenten ineinander, von Authentifizierung über Logging bis zu Schnittstellenmonitoring. Sobald ein Baustein auf proprietäre Mechanismen setzt oder sich nicht isoliert betreiben lässt, wächst die Abhängigkeit und gleichzeitig sinkt die Möglichkeit, souverän zu handeln.
Ein oft unterschätzter Hebel zur digitalen Souveränität liegt in der Wahl zwischen offenen und proprietären Systemen. Open-Source-Komponenten ermöglichen tiefere Einblicke, Auditierbarkeit und langfristige Unabhängigkeit – vorausgesetzt, der Betrieb erfolgt unter eigener Kontrolle oder in vertrauenswürdigen Partnerschaften. Proprietäre Lösungen hingegen verschleiern oft Abhängigkeiten, insbesondere bei SaaS-Angeboten ohne Zugriff auf Quellcode, Betriebsmethoden oder Datenströme.
Insbesondere APIs sind ein kritischer Faktor: Sind sie ausreichend dokumentiert? Lässt sich nachvollziehen, welche Daten verarbeitet, zwischengespeichert oder weitergegeben werden? Existieren Exit-Strategien oder Lock-in-Effekte? Antworten auf diese Fragen entscheiden über die tatsächliche Kontrollfähigkeit über zentrale Systeme.
Keine technische Eigenschaft, sondern Governance-Thema
Digitale Souveränität lässt sich nicht auf technische Parameter wie Verschlüsselung, Redundanz oder Geo-Fencing reduzieren. Sie ist das Ergebnis eines Zusammenspiels aus Architekturentscheidungen, Vertragsmanagement, organisatorischer Zuständigkeit und regulatorischer Weitsicht.
Viele Schwachstellen entstehen dort, wo Zuständigkeiten nicht klar geregelt sind – etwa wenn Fachbereiche SaaS-Anwendungen ohne Einbindung der IT integrieren oder Security-Standards nicht über alle Schichten hinweg überprüft werden. Ohne zentrale Steuerung und dokumentierte Prozesse wird Souveränität zur Illusion.
Scheinlösungen erkennen: Sovereignty Washing
Mit der gestiegenen Nachfrage nach datenschutzkonformen und souveränen Cloud-Lösungen wächst auch die Zahl der Anbieter, die gezielt mit Schlagworten wie „EU-only“, „GDPR ready“ oder „Sovereign Cloud“ werben. Doch nicht alle dieser Aussagen halten einer technischen oder juristischen Prüfung stand.
Der Begriff Sovereignty Washing beschreibt das Phänomen, bei dem Souveränität suggeriert, aber nicht durchgängige Kontrolle gewährleistet wird. Typische Signalbegriffe sind neben den eben genannten auch „100 % compliant“ oder „Zero-Knowledge“. Doch häufig fehlen technische Nachweise für Auditfähigkeit, Exit-Möglichkeiten oder Datenflusskontrolle. Eine unabhängige Überprüfung der Systemarchitektur, der Supportstrukturen und der Betreiberverhältnisse ist daher unerlässlich – nicht nur im Sinne der Compliance, sondern zur Sicherung langfristiger Handlungsspielräume.
Prüffragen sollten u. a. lauten:
- Sind Auditberichte öffentlich oder auf Anfrage verfügbar?
- Lassen sich Exit-Prozesse (inkl. Datenportabilität) vorab testen?
- Wird der vollständige Datenfluss inklusive Third-Party-Calls offengelegt?
- Wie unabhängig ist der Betreiber im Hinblick auf Gesellschafterstruktur und Jurisdiktion?
Echte Souveränität ist ein Prozess
Digitale Souveränität setzt voraus, dass Unternehmen ihre Infrastruktur verstehen, bewerten und strategisch gestalten können. Wer seine Systeme durchdringt, technisch wie vertraglich, kann Risiken minimieren, regulatorischen Anforderungen proaktiv begegnen und Abhängigkeiten gezielt reduzieren.
Für IT-Organisationen bedeutet das: Systeme und Anbieter müssen funktional bewertet, sowie im Hinblick auf Kontrollierbarkeit, Transparenz und strategische Exit-Fähigkeit geprüft werden. Nur so lässt sich verhindern, dass die Unabhängigkeit europäischer Cloud-Infrastrukturen zur bloßen Fassade wird. Wer frühzeitig investiert, verschafft sich rechtliche Sicherheit und technologische Freiheitsgrade für neue Geschäftsmodelle. Cloud-Strategien sollten daher als Kernbestandteil resilienter Unternehmensführung regelmäßig überprüft und weiterentwickelt werden.