Erweiterte Realitäten: Längst weit mehr als Pokemon Go

Stefan HengAugmented Reality und Virtual Reality rücken verstärkt in den Fokus der breiten Öffentlichkeit. Dies zeigen der Hype um Pokémon Go und sicherlich auch die beiden aktuellen Tatort-Folgen aus Stuttgart bzw. Bremen, bei denen sich die Kommissare jeweils mit den dystopischen Abgründen künstlicher Intelligenz und erweiterten Realitäten beschäftigten. Eine Analyse von Prof. Dr. Stefan Heng, Duale Hochschule Baden-Württemberg.

Weg von diesem unterhaltenden Aspekt verortet die Computerwissenschaft Augmented Reality und Virtual Reality auf der wissenschaftlichen Ebene im sogenannten „Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum“ als Mixed Reality oder Enhanced Reality. Im Gegensatz zu Virtual Reality, bei der der Nutzer umfänglich in eine virtuelle Welt eintaucht, wird bei Augmented Reality und auch Mixed Reality die reale Welt um zusätzliche Informationen beziehungsweise technische Hilfen erweitert. Da diese Kombination aus realer und virtueller Welt sehr große Potenziale birgt, wollen wir hier verstärkt auf Augmented Reality eingehen; und dabei der Einfachheit halber die Mixed Reality mit subsummieren.

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Nicht nur die Datenbrille

Allgemein wird Augmented Reality lediglich auf das elaborierte Sichtgerät reduziert. Tatsächlich steht Augmented Reality aber für einen umfassenden Ansatz für den Umgang mit der Komplexität unseres Alltags. Hierbei wird die reale Welt mit virtuellen Informationen angereichert, um die Kommunikati- on zu unterstützen und den Informationsfluss zu kanalisieren. Entgegen dem Vorurteil sind es eben nicht die hochspezialisierten Datenbrillen, sondern die sowieso allgegenwärtigen Smartphones und Tablets, die als Endgerät für Augmented Reality dienen. Es sind also die schnell fallenden Preise bei Hardware, Software und Datenübertragung sowie die Apps, die die Endgeräte für sehr unterschiedliche Anwendungen tauglich machen, die Augmented Reality heute den Weg im Massenmarkt ebnen

Die Idee ist nicht neu; jedoch die Umsetzungsmöglichkeiten 

Tatsächlich jedoch ist die grundsätzliche Idee nicht neu und wabert schon lange durch die Köpfe der Menschen, was auch die Kunst und Literatur dokumentiert. Denken Sie beispielsweise an Lyman Frank Baum, den Autor des Zauberers von Oz. In seinem 1901 erschienen Kinderbuch „The Master Key“ findet der Protagonist Rob eine Brille; die man heute als Daten-Brille bezeichnen würde. Sieht man durch diese Brille, so erscheint auf der Stirn der betrachteten Menschen der Buchstabe „G“ für „good“ oder das „E“ für „evil“. Ein anderes Beispiel begegnet uns mit dem Holodeck der USS-Enterprise in Gene Roddenberrys Star Trek-Fiktion, die nun auch schon vor 50 Jahren ab- hob. Doch neben den Künstlern und Literaten beschäftigten sich auch Ingenieure schon lange mit neuen Realitäten – freilich ohne diesen Begriff zu verwenden.

Beispielsweise stellte Morton Heilig 1956 das Sensorama-Verfahren vor. Dabei saß ein Zuschauer auf einem beweglichen Stuhl, den Kopf in einer Kabine und erlebt so eine simulierte Motorradfahrt durch New York, mitsamt Vibrationen, Fahrtwind und Geruch. Dann Ende der 1960er Jahre baute Ivan Sutherland von der Harvard Universität einen ersten Augmented-Reality-Helm. Weil dieser Helm so unhandlich und schwer war, dass er über dem Kopf des Nutzers an der Decke befestigt werden musste, wurde er auch als „Damokles-Schwert“ tituliert. Mitte der 1980er trugen Piloten von Apache Kampfhubschraubern dann Helme, die virtuell den idealen Flugweg zeigten. Anfang der 1990er entwickelten dann Boeing-Techniker eine Augmented-Reality-Software für die Flugzeugwartung. Diese Software sollte die Qualität der Arbeit steigern, indem sie die richtige Lage eines auszutauschenden Bauteils am Objekt genau zeigte. In diesem Umfeld waren es dann auch Tom Caudell und David Mizell, die den Begriff Augmented Reality prägten.

Anwendungsbereiche Virtual Reality

Bild 1: Anwendungsbereiche Übersicht.

Wegen der anfänglich exorbitant hohen Preise für Hardware und Software sowie wegen der enormen Komplexität der Geräte war Augmented Reality lange Zeit der Wissenschaft, dem Militär und der Großindustrie vorbehalten. Ein erster Durchbruch im Massenmarkt gelang Bruce Thomas im Jahr 2000 mit seinem Gaming-Angebot. Ein weiterer entscheidender Schritt im Konsumentenmarkt erfolgte dann mit der Wikitude-App, die Live-Bilder der Smartphone-Kamera mit den ortsbezogenen Informationen aus dem Internet kombiniert. Die danach folgenden, neueren Entwicklungen bei Google Glass und Pokémon Go, die das Thema in das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit katapultierten, sind uns ja dann allen weitgehend noch im Kopf.

Seriöse Nutzung im Unternehmenskontext längst angestoßen

Augmented Reality wird oft mit Gaming à la Pokémon Go oder der gesichtserkennenden Datenbrille à la Google Glass gleichgesetzt. Hier schwingen beim Stichwort Augmented Reality häufig auch gleich Befürchtungen um die Verletzungen der Privatsphäre mit. Allerdings ist dieser Blick sehr verengt. Denn wie zuvor bereits erwähnt bahnte sich Augmented Reality bereits Jahrzehnte vor dem aktuellen Hype um Pokémon Go und Google Glass seinen Weg in den seriösen Anwendungen unseres Alltags.

Dabei spannt sich das Einsatzfeld weit über Entertainment hinaus bis hin zu Bildung, Gesundheit und Prozessoptimierung; hier insbesondere auch im Kontext des Mega-Themas Industrie 4.0. Entsprechend umfangreich ist die Liste der Unternehmen, die sich in diesem Feld tummeln. Sie reicht von Google, HP, IBM, Microsoft, SAP, über Nokia und Olympus, bis hin zu Mitsubishi, Audi, BMW, Daimler, Jaguar und Bayer; um nur eine kleine Auswahl großer Namen zu nennen.

„Tatsächlich jedoch ist die grundsätzliche Idee nicht neu und wabert schon lange durch die Köpfe der Menschen, was auch die Kunst und Literatur dokumentiert.“
Prof. Dr. Stefan Heng

Auch wenn es schwerfällt, wollen wir uns hier auf ein paar wenige Beispiele aus den Bereichen Automobil, Architektur und Tourismus beschränken. So werden im Automobil-Bereich die Pkw-Konfiguratoren mit denen sich ein Käufer die einzelnen Komponenten zusammenstellt, immer mehr in Richtung Augmented Reality entwickelt, um darüber den Erlebnisfaktor zu steigern. Einen weiteren Ansatz verfolgt Jaguar Land Rover mit dem „Virtual Windscreen“. Dieser projiziert den jeweiligen Bremsweg direkt auf die Windschutzscheibe und zeigt auch günstige Überholmöglichkeiten. Mitsubishi Electric vereinfacht mit meView die Fahrzeug-Wartung. Hier erkennt die Technik das Fahrzeug-Modell und zeigt dem Mechaniker die notwendigen Handgriffe am konkreten Objekt.

Neben dem Automobil-Bereich nutzen auch Raumplaner und Architekten die Technik. Beispielsweise zeigt die Technik, wie sie derzeit das Fraunhofer FIT im INSITU-Projekt entwickelt, bei der Rekonstruktion einer Altstadt oder dem Neubau eines Wolkenkratzers die künftigen Verschattungen im Raum. Eine solche Darstellung hilft den Spezialisten, aber auch den im räumlichen Denken ungeübten Bürgern.

Tourismus-Einrichtungen bringen uns mit der Technik untergegangene Bauwerke und Kulturen näher. So können Besucher im neuseeländischen Christchurch per Smartphone App sehen, wie die Stadt vor dem verheerenden Erdbeben im Jahr 2013 aussah. Daneben arbeiten Fraunhofer FIT und Korea In- stitute for Advancement of Technology daran, mit Unterwas- ser-Augmented-Reality das bislang altbackenen Hallenbad in ein virtuelles Korallenriff für beeindruckende Tauchgänge zu verwandeln. Noch kommt man hier allerdings nicht ganz an das Great Barrier Reef ran.

Besonders nützlich in Bereichen mit hohem Risiko und hohen Kosten

Speziell Sektoren mit ausgesprochen komplexen, risikobehafteten und kostenintensiven Aufgaben haben Augmented Reality schon lange für sich entdeckt. Besonders intensiv engagieren sich das Militär, die industrielle Prozesssteuerung und auch die Gesundheitswirtschaft. Allein in der Gesundheitswirtschaft sind die Einsatzfelder für Augmented Reality überaus facettenreich. Sie reichen von der Ausbildung des medizinischen Personals über die Therapie bis hin zur auf Patienten-Autonomie zielenden Versorgung. Beispielsweise sind die Fachverlage intensiv damit beschäftigt, die Lehrbücher zu den komplexen biologischen Zusammenhängen mit Augmented-Reality cross-medial auszubauen. Ein anderes Beispiel ist die Datenbrille, die dem Chirurgen die Bilder aus vorangegangenen MRT-Untersuchungen während der Operation genau an der passenden Stelle beim Patienten einblendet. Der Operateur kann so wesentlich präziser und schonender arbeiten und wird zudem auch schon in seiner Vorbereitung entlastet.

Hierzulande stehen (wieder einmal) besonders hohe Hürden vor dem wirtschaftlichen Erfolg

Um all die verlockenden Vorteile von Augmented Reality zu heben, braucht es bald Antworten auf dringende Fragen in den verschiedenen Bereichen; vom Datenschutz bis hin zu Netzausbau und Finanzierung. So muss ein international möglichst umfassend anerkannter, konsistenter Rechtrahmen festlegen, wie mit personenbezogenen Daten umgegangen werden soll. Daneben benötigen wir auch ein großflächiges, leistungsfähiges Breitbandnetz, damit die Datenmengen schnell, zuverlässig und vollständig ans Ziel kommen.

Um als innovativer Standort im internationalen Wettbewerb zu bestehen, bedarf es in Deutschland ebenfalls eine gesellschaftliche Kultur der fairen Anerkennung der Chancen der Technik. Hierzulande scheint die Gefahr besonders ausgeprägt, mit dem Blick auf die Risiken dann die enormen Chancen zu verpassen. Bezüglich dieser gesellschaftlichen Grundhaltung sind neben der Politik sicherlich auch Schulen und Hochschulen gefragt. Zuletzt ist aber nochmals zu unterstreichen, was bei dem zuvor gesagten bereits anklang: Auch bei Augmented Reality besteht für Deutschland die Gefahr, am Markterfolg nicht hinreichend teilzuhaben und stattdessen von Nordamerika sowie Fernost abgehängt zu werden. Und das liegt mal wieder nicht an der Forschung. Nein, ganz im Gegenteil. Deutsche Einrichtungen zählen hier zur absoluten Weltspitze; insbesondere bei der Grundlagenforschung. Umso schmerzlicher ist dann die Feststellung, dass die deutschen Unternehmen bei der Technik nur eine untergeordnete Rolle spielen. Die Lücke zwischen dem Forschungs- und dem Markterfolg liegt womöglich an den Konditionen der Forschungsförderung, bestimmt aber auch daran, dass es in Deutschland kein hinreichendes Verständnis und Angebot für Wagniskapital gibt.

Chancen wollen ergriffen werden

Augmented Reality verfügt über beachtliches Marktpotenzial. Forschungsinstitute sprechen von anhaltenden jährlichen Wachstumsraten in oberer zweistelliger Größenordnung. Ein bedeutender Teil dieses Potenzials entfällt auf die Datenbrillen, die vor allem von amerikanischen Software- sowie Internet- konzernen angeboten werden und sich nun auch bei Privatan- wendern immer mehr verbreiten; selbst Elektronik-Versandhäuser führen solche Brillen ja mittlerweile für kleines Geld im Sortiment.

Die Chancen für die deutschen Hersteller liegen bei den hochspezialisierten gewerblichen Anwendungen, bei denen es um maßgeschneiderte Lösungen und enge Kooperationen zwischen dem Hersteller und dem Anwender geht. Um hier aber tatsächlich auch zu Punkten, braucht es Antworten auf die vielfältigen Fragen im technischen, wirtschaftlichen und politischen Bereich. Erste erfreuliche Schritte wurden bereits unternommen. Hier seien beispielhaft die Initiativen zur Verbesserung des Datenschutzes im internationalen Kontext und des flächendeckenden Breitbandausbaus genannt. Gleichwohl müssen schleunigst noch weitere Schritte folgen. Gerade für Deutschland mit seiner besonderen demografischen Entwicklung ist es wichtig, sowohl als Hersteller als auch als Anwender die vielfältigen Früchte der Entwicklung ernten zu können.

Prof. Dr. Stefan Heng, Duale Hochschule Baden-Württemberg, Fakultät Wirtschaft, Fachbereich Digitale Medien

Mehr dazu

Heng, Stefan (1.11.2016): „Virtuell gegen Komplexität: Erweiterte Realitäten erleichtern das Leben“. DIE NEWS. Nov. 2016. Stuttgart. S. 6f.
Heng, Stefan (1.8.2016): Augmented Reality: Visuelle Technologie hilft bei demografischen Herausforderungen“. Krankenhaus IT-Journal 4/16. S. 26 f.
Heng, Stefan (23.5.2016): „Augmented Reality: Perspektive für die Gesundheitswirtschaft“. Familienunternehmer News. 
Heng, Stefan (14.9.2015): „eHealth: Bei Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft kann Industrie 4.0 Vorbild sein“. Deutsche Bank Research, Competence Site. 
Heng, Stefan (21.8.2015): „Augmented Reality: Bei Spezialanwendungen sollte Deutschland von dynamischem Zukunftsmarkt profitieren können“. Competence Site. 
Heng, Stefan (27.1.2015): „Augmented Reality: Befürchtungen sollten Blick auf Chancen nicht grundsätzlich verstellen“ Familienunternehmer-News. 
Heng, Stefan (14.1.2015): „Industrie 4.0, Big Data und Cloud: Innovationstreiber von morgen“. Familienunternehmer-News. 
 

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