Die Achillesferse der Digitalisierung

Wenn Zertifikate zur Zeitbombe werden

Zeitbombe

Die digitale Transformation hat einen blinden Fleck. Während Unternehmen Millionen in Cloud-Infrastrukturen und KI-Lösungen investieren, übersehen sie häufig das fundamentale Vertrauensproblem ihrer digitalen Kommunikation. Digitale Zertifikate – einst als technisches Detail abgetan – entwickeln sich zur kritischen Sollbruchstelle moderner IT-Architekturen.

Der Wandel kommt schleichend, aber mit Wucht: Die Laufzeiten öffentlicher TLS-Zertifikate schrumpfen von 398 auf künftig 47 Tage. Was nach einer technischen Petitesse klingt, bedeutet für Unternehmen eine Verachtfachung des Verwaltungsaufwands. Gleichzeitig explodiert die Anzahl der zu verwaltenden Zertifikate durch IoT-Geräte und Machine-to-Machine-Kommunikation. Ein mittelständisches Fertigungsunternehmen jongliert heute bereits mit Tausenden digitaler Identitäten – Tendenz exponenziell steigend.

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Das Regulatorik-Labyrinth fordert seinen Tribut

Die Komplexität endet nicht bei der schieren Menge. Weltweit existieren mittlerweile über 70 verschiedene Regulierungsrahmen für digitale Sicherheit, von DORA über NIS-2 bis zu branchenspezifischen Vorgaben in der Medizintechnik. Jede Region, jeder Markt, jede Branche bringt eigene Compliance-Anforderungen mit sich. Ein deutsches Unternehmen, das international agiert, muss nicht nur die europäische Gesetzgebung im Blick behalten, sondern auch die Vorgaben seiner Zielmärkte in Asien oder Amerika.

Die persönliche Haftungskomponente von NIS-2 wirkt dabei wie ein Katalysator für das Sicherheitsbewusstsein. Wenn Geschäftsführer plötzlich persönlich für Sicherheitsvorfälle geradestehen müssen, rückt das Thema PKI (Public Key Infrastructure) aus dem Keller der IT-Abteilung direkt in die Agenda der Vorstandsetagen. Ein überfälliger Schritt, denn die historisch gewachsenen Patchwork-Lösungen vieler Unternehmen gleichen mittlerweile digitalen Kartenhaushäusern.

Der Expertenmangel verschärft die Krise

Selbst Konzerne mit sechsstelligen Mitarbeiterzahlen kapitulieren vor der Herausforderung, das notwendige Expertenwissen intern aufzubauen. Kryptographie-Spezialisten sind am Markt kaum verfügbar, und wenn, dann zu Konditionen, die selbst für Großunternehmen schwer darstellbar sind. Die wenigen verfügbaren Experten müssen permanent weitergebildet werden, da sich Regularien und technische Standards kontinuierlich weiterentwickeln.

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Der Versuch, diese Expertise durch multiple Anbieter abzudecken, führt zu neuen Problemen: Schnittstellenchaos, Inkonsistenzen und im schlimmsten Fall zu Sicherheitslücken an den Übergängen zwischen verschiedenen Systemen. Ein typisches Großunternehmen arbeitet heute mit zehn bis zwölf verschiedenen Anbietern im Bereich digitaler Zertifikate – ein Wildwuchs, der nicht nur teuer, sondern auch riskant ist.

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Post-Quantum-Computing: Die tickende Zeitbombe

Als wäre die aktuelle Situation nicht komplex genug, wirft die Quantencomputer-Revolution bereits ihre Schatten voraus. Die heute verwendeten kryptographischen Verfahren werden durch Quantencomputer angreifbar – ein Szenario, das keine Science-Fiction mehr ist, sondern konkrete Vorbereitungen erfordert. Unternehmen müssen bereits heute Post-Quantum-Ready werden, ohne zu wissen, wann genau der Umbruch kommt.

Die Migration zu quantensicheren Verfahren gleicht dabei einem Herzschrittmacher-Wechsel bei laufendem Betrieb. Jedes Zertifikat, jede verschlüsselte Verbindung muss identifiziert, bewertet und schrittweise migriert werden. In einem gewachsenen IT-Ökosystem mit Tausenden von Zertifikaten unterschiedlicher Generationen und Anbieter wird dies zur Herkulesaufgabe.

Managed Trust als strategischer Ausweg

Das nun anzustrebende Ziel liegt nicht in weiteren Insellösungen, sondern in einem fundamentalen Strategiewechsel. Managed-Trust-Plattformen, die das gesamte Spektrum digitaler Zertifikate abbilden und verwalten können, entwickeln sich zur kritischen Infrastruktur. Analysten prognostizieren für diesen Markt ein Wachstum um den Faktor fünf in den kommenden sieben Jahren. Das ist ein deutliches Signal für die Dringlichkeit des Problems.

Moderne Plattformen integrieren dabei nicht nur verschiedene Zertifikatstypen – von öffentlichen TLS-Zertifikaten über IoT-Standards wie Matter bis zu digitalen Signaturen – sondern bilden auch die regulatorischen Anforderungen verschiedener Märkte ab. Built-in Compliance wird zum entscheidenden Differenzierungsmerkmal. Die automatisierte Verwaltung und Erneuerung von Zertifikaten reduziert nicht nur das Risiko von Ausfällen, sondern senkt auch die Kosten im Vergleich zu den historisch gewachsenen Workaround-Konstrukten.

Der deutsche Sonderweg führt in die Sackgasse

Die in Deutschland oft beschworene digitale Souveränität erweist sich im Bereich der PKI als zweischneidiges Schwert. Während die emotionale Debatte um Datensouveränität tobt, sitzen selbst deren Verfechter mit Apple-Geräten am Konferenztisch. Die Realität hat die Ideologie längst überholt: Eine rein nationale Lösung für ein inhärent globales Problem wie digitale Zertifikate ist nicht nur unrealistisch, sondern kontraproduktiv.

Deutsche Unternehmen haben sich jahrzehntelang auf ihre Kernkompetenzen wie beispielsweise der präzisen Fertigung oder Maschinenbau konzentriert. Der Versuch, die verlorene Zeit im Digitalbereich durch überhastete Initiativen aufzuholen, droht zu scheitern. Was fehlt, ist nicht primär das Geld – die finanziellen Mittel wären vielerorts vorhanden. Es mangelt an realistischen Zeitplänen, durchdachten Strategien und vor allem am Mut, externe Expertise in Anspruch zu nehmen statt alles selbst entwickeln zu wollen.

Die erfolgreichen deutschen Hidden Champions der Vergangenheit zeichneten sich durch Spezialisierung und Perfektion in ihrer Nische aus. Genau diese Strategie müssen Unternehmen heute auch bei der digitalen Transformation anwenden: Die eigenen Kernkompetenzen stärken und für kritische Infrastrukturbereiche wie PKI auf spezialisierte Partner setzen, die diese Komplexität beherrschen.

Die digitale Zukunft deutscher Unternehmen hängt nicht davon ab, ob sie jede Technologie selbst entwickeln können, sondern ob sie die richtigen Partner finden und integrieren können. Im Bereich der digitalen Zertifikate tickt die Uhr bereits. Unternehmen, die jetzt nicht handeln, werden spätestens beim nächsten großen Sicherheitsvorfall oder bei der Post-Quantum-Migration unsanft geweckt werden. Die Frage ist nur, ob es dann noch rechtzeitig ist.

Robert Frank

Robert

Frank

Vice President DACH & Eastern Europe

DigiCert

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