Der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften entwickelt sich in Deutschland zunehmend zu einem zentralen Risiko für Unternehmen. Was lange als operative Herausforderung im Personalwesen galt, wirkt sich heute spürbar auf die Zielerreichung aus.
Nach Angaben des HR-Tech-Anbieters Remote haben im vergangenen Jahr 78 Prozent der deutschen Unternehmen wichtige Vorhaben nicht wie geplant umsetzen können, weil ihnen geeignetes Personal fehlte.
Die meisten Personalverantwortlichen in Deutschland berichten, dass es immer schwieriger wird, geeignete Bewerberinnen und Bewerber zu finden. Laut Remote empfinden 78 Prozent die nationale Rekrutierung inzwischen als äußerst herausfordernd. Viele Organisationen richten ihren Blick deshalb verstärkt auf den internationalen Arbeitsmarkt. Bis Ende 2026 sollen nach eigener Planung fast zwei Drittel aller Neueinstellungen außerhalb Deutschlands erfolgen. Gleichzeitig geben jedoch 80 Prozent der befragten Unternehmen an, dass die Suche nach internationalen Fachkräften inzwischen deutlich anspruchsvoller geworden ist als noch im Vorjahr.
Hohe Anforderungen schmälern den Talentpool
Ein wesentlicher Grund für die angespannte Situation liegt nach Einschätzung von Remote in den Erwartungen der Unternehmen an Bewerbende. Immer mehr Firmen verlangen für neue Positionen einen Masterabschluss. In der Umfrage gaben 59 Prozent an, diese Qualifikation zu fordern. In vielen anderen Märkten, etwa in den USA oder im Vereinigten Königreich, ist ein solcher Abschluss jedoch nicht die Regel. Die Suche nach globalen Talenten wird dadurch unnötig eingeschränkt.
Zusätzlich nimmt die Zahl klassischer Einstiegsstellen ab. Acht von zehn Unternehmen berichten, dass der Einsatz von KI die Menge dieser Positionen spürbar verringert hat. Wer weiterhin sowohl hohe akademische Abschlüsse als auch umfangreiche Berufserfahrung voraussetzt, grenzt potenzielle Bewerberinnen und Bewerber weiter aus und verstärkt so den Fachkräftemangel.
Remote-CEO Job van der Voort verweist darauf, dass starre Kriterien die Lage zusätzlich verschärfen. Unternehmen müssten stärker auf Fähigkeiten und Entwicklungspotenzial achten, statt Kandidatinnen und Kandidaten durch zu enge Anforderungen auszuschließen.
Traditionelle Qualifikationsvorstellungen bremsen Innovation
Die Ergebnisse des Reports zeigen, dass Deutschland im internationalen Wettbewerb um Talente an Attraktivität verliert. Ursache ist ein verbreitetes Festhalten an klassischen Bildungswegen und formalen Titeln. Ein Blick auf die obersten Führungsebenen bestätigt diese Tendenz. Die Personalberatung Odgers stellt in ihrem DAX-Vorstandsreport fest, dass 57 Prozent der deutschen DAX-Vorstände über einen MBA oder einen Doktortitel verfügen. In internationalen Führungsetagen liegt der Anteil dagegen bei 37 Prozent.
Parallel dazu nimmt die Bedeutung von Promotionen langfristig ab. Eine Auswertung von Heidrick and Struggles zeigt, dass der Anteil promovierter Vorstandsmitglieder im DAX innerhalb von 15 Jahren von rund 50 Prozent auf 30 Prozent gesunken ist. Dies deutet darauf hin, dass auch in Deutschland allmählich ein Umdenken einsetzt.
Neue Maßstäbe für eine moderne Arbeitswelt
In einer Wirtschaft, die zunehmend von Technologie und Innovationsdruck geprägt ist, verliert die reine Betrachtung formaler Abschlüsse an Aussagekraft. Fähigkeiten, Lernbereitschaft und Anpassungsvermögen werden zu entscheidenden Faktoren. Unternehmen, die offen für vielfältige Lebensläufe sind und Potenzial stärker gewichten als traditionelle Karrieremuster, verbessern nicht nur ihre Chancen im globalen Talentwettbewerb. Sie schaffen auch die Grundlage dafür, den Fachkräftemangel langfristig zu entschärfen.