Das Potenzial von Agentic AI ist kaum zu übersehen. Autonome Systeme, die eigenständig schlussfolgern, planen und handeln – und damit Geschäftsergebnisse spürbar verbessern können – sind längst nicht mehr Zukunftsmusik. Sie stehen für den nächsten großen Entwicklungsschritt in der Unternehmens-IT.
Trotzdem bleibt dieses Potenzial für viele Organisationen bisher unerreicht. In zahlreichen Branchen zeigt sich ein vertrautes Bild: Proofs-of-Concept kommen nicht über die Pilotphase hinaus, KI-Tools wachsen unkoordiniert nebeneinander her, und Initiativen, die einmal vielversprechend gestartet sind, schaffen den Sprung in den produktiven Alltag nicht.
Am fehlenden Anspruch liegt es nicht. Das Problem ist ein architektonisches.
Veraltete Systemlandschaften, Datensilos und lange Entwicklungszyklen bremsen aus, sobald KI von der Idee in den Betrieb wechseln soll. Wer echten Nutzen erzielen will, muss aufhören, KI als isoliertes Experiment zu behandeln – und anfangen, sie konsequent zu operationalisieren. Also dort zu verankern, wo Software entsteht, ausgerollt und gesteuert wird: im Kern der Anwendungen, der Daten und der Prozesse.
Von autonomen Aufgaben zu orchestrierten Abläufen
Eine aktuelle Befragung von CIO Dive, KPMG und OutSystems zeigt, wie weit Unternehmen inzwischen sind. Mehr als 90 Prozent der über 500 befragten IT-Entscheidenden planen den Einsatz sogenannter Custom AI Agents, fast die Hälfte hat erste Projekte umgesetzt. Gleichzeitig bleiben aber viele Initiativen im Pilotstadium. Oft liegt das an fragmentierten Systemen, isolierten Daten und fehlender Governance.
Agentic AI unterscheidet sich grundlegend von generativer KI. Während generative Modelle Inhalte erzeugen oder Code auf Anweisung produzieren, führen Agenten eigenständig Aktionen aus. Sie können Supporttickets bearbeiten, IT-Vorfälle lösen oder administrative Abläufe steuern. In Lieferketten identifizieren sie Verzögerungen, analysieren Auswirkungen, planen Alternativen und informieren Beteiligte automatisch weiter.
Damit diese Systeme zuverlässig arbeiten, müssen sie eng mit bestehenden Anwendungen und Datenstrukturen verbunden sein – etwa mit CRM-, ERP- oder HR-Systemen. Der Schwerpunkt verschiebt sich damit von immer leistungsfähigeren Modellen hin zur Frage, wie Agenten in sichere, skalierbare und regulierte Umgebungen eingebettet werden. Denn erst wenn KI-Projekte nicht mehr isoliert laufen, sondern fest in Prozesse und Governance integriert sind, entsteht ein verlässlicher und langfristig nutzbarer Mehrwert für Unternehmen.
Low Code als verbindendes Element im KI-Betrieb
Um Agentic AI produktiv zu betreiben, benötigen Unternehmen eine Architektur, die Systeme, Daten und Menschen miteinander verbindet. Low-Code-Plattformen bilden dafür ein zentrales Fundament. Sie ermöglichen es, Agenten nahtlos in Workflows einzubinden, ohne für jeden Anwendungsfall neue Integrationen entwickeln zu müssen. Statt KI als Zusatzfunktion an bestehende Systeme anzudocken, lässt sie sich direkt in den gesamten Lebenszyklus der Softwareentwicklung aufnehmen.
Entwickelnde greifen dabei auf Konnektoren, wiederverwendbare Bausteine und visuelle Orchestrierungswerkzeuge zu. So entsteht eine durchgängige Umgebung, in der agentische Abläufe über verschiedene Systeme hinweg zusammengesetzt, überwacht und gesteuert werden können. Low Code beschleunigt nicht nur die Entwicklung – er schafft die strukturellen Voraussetzungen, um KI-Agenten überhaupt verlässlich zu operationalisieren.
Build, Buy oder Orchestrate? Die Zukunft ist hybrid
Mit der zunehmenden Verbreitung von Agentic AI stehen viele Unternehmen vor der Frage, ob sie eigene Agenten entwickeln oder bestehende Lösungen integrieren sollen. Der gemeinsame Bericht von KPMG, CIO Dive und OutSystems zeigt, dass rund ein Drittel der befragten Organisationen vorgefertigte agentische KI-Werkzeuge einsetzen möchte, während andere Agenten selbst entwickeln – auf Basis proprietärer oder offener Frameworks.
Langfristig deutet vieles auf hybride Modelle hin. Unternehmen kombinieren agentische Systeme, die auf spezifische Geschäftsanforderungen zugeschnitten sind, mit Agent-as-a-Service-Angeboten, die über standardisierte Schnittstellen eingebunden werden. Eine Low-Code-Plattform verbindet beide Ansätze. Sie ermöglicht es, interne und externe Agenten zu orchestrieren und unter einer gemeinsamen Governance- und Sicherheitsstruktur zu betreiben. Wer KI-Agenten als modulare Bausteine nutzt, schafft die Grundlage, um einzelne Projekte miteinander zu verbinden und nach Bedarf auszubauen. So entsteht eine Architektur, die sich langfristig skalieren lässt.
Europas vorsichtiger Weg in die operative KI
Auch europäische Unternehmen erkennen das Potenzial agentischer Systeme, gehen jedoch vorsichtiger vor als andere Regionen. Laut der OutSystems-Studie haben bislang rund 40 Prozent der europäischen Organisationen Agentic AI in ihre Anwendungen und Workflows integriert. In Nordamerika sind es 50 Prozent, in Asien bereits 60 Prozent.
Zu dieser Zurückhaltung tragen strengere regulatorische Vorgaben, unterschiedliche technische Reifegrade und fehlende gemeinsame Entwicklungsstandards bei. Unternehmen müssen daher früh klare Strukturen schaffen – von Governance und Monitoring bis hin zu Sicherheitsmechanismen. Mit wachsender Autonomie der Systeme steigen auch die Anforderungen an Transparenz, Compliance und Nachvollziehbarkeit. 64 Prozent der befragten Führungskräfte sehen genau darin ihre größten Herausforderungen. Governance muss deshalb tief in der Architektur verankert sein, damit agentische Systeme im Einklang mit rechtlichen, ethischen und unternehmerischen Vorgaben arbeiten.
Fazit: Von Potenzial zu messbarer Performance
Agentic AI steht für die nächste Stufe der Unternehmenssoftware. Unternehmen, die KI nicht als Ergänzung, sondern als integrierten Bestandteil ihrer Systeme und Prozesse verstehen, schaffen die Grundlage für produktive, sichere und skalierbare Workflows. Architektur, Plattformen und Governance werden dabei zu den entscheidenden Faktoren, um den Schritt von der Idee in den operativen Alltag erfolgreich zu vollziehen.
Autor: Tiago Azevedo, CIO von OutSystems