Die Uhr tickt: Bis 2030 soll Europa laut Europäischer Kommission digital souverän sein. Doch während die Politik Autonomie predigt, laufen in den meisten Büros weiter US-Tools wie Microsoft Teams.
Eine aktuelle Umfrage der Kommunikations- und Kollaborationsplattform Wire zeigt: Die große Mehrheit der europäischen Entscheider hält die europäischen Ziele für kaum erreichbar.
Europa steckt in einem Souveränitätsparadoxon. Die Ziele sind klar. Bis 2030 soll Europa in zentralen Bereichen der Digitalisierung eigenständiger, resilienter und unabhängig sein. Das wird unter dem Begriff „digitale Dekade 2030“ zusammengefasst. Doch die Bereitschaft vieler Unternehmen, auf souveräne Lösungen zu setzen, ist nur begrenzt vorhanden. Das zeigt auch die Wire-Umfrage. Zwar halten 84 Prozent der Befragten digitale Souveränität für geschäftskritisch, doch nur ein Bruchteil davon ist der Meinung ihre interne IT-Landschaft würde den Anforderungen auch entsprechen.
Souveränität gibt es nicht zum Nulltarif
Führungskräfte in Europa sind sich der prekären Lage somit bewusst. Warum also setzen sie weiter auf US-Tools?
Zum einen kommt Widerstand aus den eigenen Reihen. Mitarbeiter sind vertraut mit bekannten Tools wie Microsoft Teams oder Zoom und wollen daran festhalten. Datenschutzrisiken sind für 63,2 Prozent der Befragten kein Argument, die bekannten Anwendungen aufzugeben.
Hinzu kommt die technische Abhängigkeit. Die meisten IT-Landschaften werden von US-Software-Suiten dominiert. Für mehr als die Hälfte der Entscheider (57,9 Prozent) ist die Integration souveräner Plattformen in US-dominierte IT-Landschaften daher ein fast unüberwindbares Hindernis.
Und selbst wenn Führungskräfte die Notwendigkeit erkennen und handeln wollen, wissen sie oft nicht, welche souveränen Tools überhaupt auf dem Markt sind. Außerhalb von bestimmten politischen Kreisen werden souveräne Anbieter immer noch als Nischenlösungen angesehen. 36,8 Prozent der Befragten gibt an, schlicht nicht genug Informationen über europäische Tools zu haben, um entscheiden zu können.
Zu guter Letzt stecken die meisten Unternehmen in langfristigen Verträgen mit ihren Dienstleistern und nutzen deren proprietäre Formate auf allen Unternehmensebenen. Mehr als ein Viertel der Entscheider (26,3 Prozent) betont, dass ein Wechsel deshalb keine reine IT-Entscheidung sei, sondern eine, die das gesamte Unternehmen betrifft und politische wie monetäre Folgen mit sich ziehen kann.
Angesichts dieser Hürden überrascht es kaum, dass nur 15,8 Prozent der Befragten glauben, dass Europa bis 2030 echte digitale Souveränität erreichen kann.
„Compliance-Theater“: Hemmnis statt Motor
Die EU versucht gegenzusteuern und Unternehmen mit Regulierungen und gesetzlichen Rahmenwerken zu mehr Souveränität zu motivieren. NIS2, DORA, und DSGVO legen zwar eine wichtige Grundlage für mehr Datenschutz und erfordern eine strengere Berichterstattung. Die Einhaltung kommt jedoch mehr einem „Compliance-Theater“ gleich, bei dem Unternehmen zwar nach außen hin die Regularien einhalten, aber mit minimalem Einsatz, der kaum Auswirkungen auf die Widerstandsfähigkeit und Unabhängigkeit von Systemen und Anbietern hat.
Wie geht echte digitale Souveränität?
Die Wire-Umfrage zeigt auch, wo laut europäischen Entscheidern die Prioritäten liegen müssten. An erster Stelle steht Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, die 84 Prozent für unverzichtbar halten. 63 Prozent sind überzeugt, dass die Einführung von Open-Source eine zentrale Rolle in der Souveränitätsstrategie spielen wird. Knapp die Hälfte der Befragten (47,4 Prozent) möchten zudem die Abhängigkeit von US-Anbietern reduzieren und als strategisches Ziel verankern und 36,8 Prozent wollen Daten primär in der EU hosten, um deren Schutz zu verbessern.
Die Hoheit über eigene Daten zu behalten, nimmt angesichts der geopolitischen Spannungen an Relevanz zu. Daten-Leaks und Cyberangriffe können Unternehmen und ihre Reputation stark schädigen. Führungskräfte sollten deshalb auf organisatorischer Ebene selbst Weichen stellen, indem sie das Bewusstsein für souveräne Lösungen unter Entscheidern schärfen und Anreize zum Experimentieren schaffen. Pilotprojekte, die zunächst in kleinem Rahmen eingeführt werden, zeigen den Mehrwert souveräner Lösungen, bauen Vorurteile ab und fördern die Akzeptanz in der Belegschaft.
Souveränität gibt’s nicht von der Stange
Mit digitaler Souveränität befreit sich Europa aus der Abhängigkeit von Anbietern aus den US und anderen Teilen der Welt. Damit stellen Unternehmen sicher, dass sie und die Daten ihrer Kunden nicht zum Druckmittel in geopolitischen Konflikten werden und schützen sich zudem vor Angriffen und Cyberattacken.
Europa hat die Chance, echte digitale Autonomie zu schaffen – aber nur, wenn es sich nicht auf halben Sachen und Regularien ausruht. Echte digitale Souveränität gibt’s nicht von der Stange. Sie entsteht durch gemeinsames Bewusstsein für Datenschutz und Sicherheit, durch Lösungen, die von Grund auf in und für Europa entwickelt, aufgebaut und verwaltet werden, und durch den Mut neue Wege zu gehen und Veränderung zuzulassen. Digitale Souveränität ist ein Prozess. Es wird dauern flächendeckend unabhängige Strukturen zu schaffen. Bis dahin braucht es Backups und Notfallpläne, die einen unterbrechungsfreien Geschäftsbetrieb sicherstellen.
Doch wenn Europa jetzt nicht handelt, bleibt es abhängig – und damit verletzlich.