Die deutsche Industrie befindet sich an einem kritischen Wendepunkt. Etliche Faktoren wie steigende Energiekosten, der sich verschärfende Fachkräftemangel, zu niedrige Investitionen der Unternehmen und hohe Steuern haben enorme Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistung in Deutschland.
Hinzu kommt die volatile globale Weltwirtschaft. Der deutsche Mittelstand und große Industriekonzerne stehen gleichermaßen unter hohem Druck.
Laut dem Bundesverband Deutscher Industrie müssen bis 2030 zusätzlich Investitionen in Höhe von 1,4 Billionen Euro getätigt werden, um hierzulande die Deindustrialisierung abzuwenden. Einem KFW-Bericht zufolge lagen die Investitionen preis- und saisonbereinigt tatsächlich um 3,7 % unter dem Niveau vom Sommer 2023 und um 6,5 % unter dem Stand von Ende 2019. Zum Vergleich: Hätten die Unternehmensinvestitionen ihr kräftiges Wachstumstempo aus dem Zeitraum von 2016 bis 2018 fortgesetzt, dann würden sie heute sogar um rund 28 % höher liegen.
Gefragt sind technisches Fachwissen und digitale Kompetenzen
Die Erkenntnis, dass die digitale Transformation das Schlüsselelement ist, mit dem der Wandel hin zu mehr Wachstum, Wohlstand und Klimaneutralität gelingen kann, setzt sich in den Unternehmen allmählich durch. Laut McKinsey wächst das Bewusstsein, dass der Fokus auf Technologie keine Alternative, sondern ein Gebot ist. Eine weitere, kürzlich erstellte Untersuchung, für die weltweit 3.600 Entscheidungsträger aus sieben Branchen befragt wurden, ergab, dass fast die Hälfte der leistungsstärksten Unternehmen produkt- oder plattformzentrierte Betriebsmodelle eingeführt hat. Die anderen versuchen aufzuholen. Dabei geben 80 % der befragten Unternehmen an, dass sie ihre Technologieinvestitionen in den kommenden Jahren um 20 % oder mehr erhöhen werden.
Die Digitalisierung der Unternehmen ist jedoch kein Selbstläufer, sondern schafft sogar neue Herausforderungen. Vor allem in der Produktion kann dies zu deutlichen Verwerfungen führen. Das zeigt ein genauer Blick auf die Qualifikationsdefizite der Mitarbeiter, die sich mit zunehmendem Technologiefortschritt auftun. Laut Bitkom, dem deutschen Verband der digitalen Wirtschaft, werden in Deutschland bis zum Jahr 2040 voraussichtlich 663.000 IT-Fachkräfte fehlen – das ist das Vierfache der aktuellen Zahlen. Derzeit werden insbesondere Spezialisten für KI, Maschinelles Lernen, Cybersicherheit und Cloudlösungen nachgefragt. Die Arbeitswelt wandelt sich permanent, vor allem im digitalaffinen Umfeld entstehen laufend neue Berufsbilder. Investitionen in neue Technologien sind jedoch nur dann sinnvoll, wenn die Unternehmen über das erforderliche Fachpersonal verfügen und die Qualifikationen der Mitarbeiter mit den sich schnell ändernden Anforderungen Schritt halten können.
Belegschaft an eine Digital-First-Strategie anpassen
Warum schneiden manche Unternehmen in Bezug auf ihre Produktivität deutlich besser ab, während andere Unternehmen, die den gleichen Wirtschaftsbedingungen ausgesetzt sind, schlechter dastehen? Die oben erwähnte Untersuchung zeigt, dass zwischen den produktivsten und den am wenigsten produktiven Industrieunternehmen eine erhebliche Lücke beim Zugang zu qualifizierten Mitarbeitern klafft: Betrachtet man deren Fähigkeiten, aktuelle Marktanforderungen zu erfüllen, so beträgt der Unterschied 22,7 %.
Der schon seit Jahren bestehende IT-Fachkräftemangel verschärft sich zusätzlich durch die rasante Entwicklung der Technologien in der Produktion. Zudem werden in der industriellen Fertigung mehr dedizierte Fähigkeiten gefordert als jemals zuvor. Dadurch ergibt sich für die Industrie eine doppelte Herausforderung: Einerseits fallen durch die Automatisierung viele Tätigkeiten weg, die in der Vergangenheit selbstverständlich waren. Andererseits entsteht gleichzeitig eine starke Nachfrage nach technisch versierten Fachkräften mit speziellem Know-how.
Als Reaktion darauf erhöhen vorausschauende Unternehmen ihre Investitionen in die Aus- und Weiterbildung. Die produktivsten Unternehmen investieren 26,2 % mehr in die Entwicklung ihrer Mitarbeiter, um sie optimal an veränderte Arbeitsanforderungen vorzubereiten.
Dies gibt Anlass zur Hoffnung. Denn viele Unternehmen sehen sich mit der sogenannten Wertelücke konfrontiert: der Diskrepanz zwischen dem Versprechen neuer Technologien, die Produktivität zu steigern, und den tatsächlichen Ergebnissen. Ein gezielter Ansatz bei der Weiterbildung und Entwicklung von Mitarbeitern kann jedoch maßgeblich dazu beitragen, diese Lücke zu schließen und die Industrieunternehmen in Deutschland auf eine wesentlich solidere Grundlage zu stellen.
Überbrückung der „Wertlücke“ durch die Umgestaltung der Belegschaft
Unternehmen, die mit ihrer bestehenden Belegschaft zukünftig erfolgreich sein wollen, müssen das richtige Gleichgewicht zwischen Mensch und Maschine finden. Nur so werden Investitionen in Technologie zu einem zukünftigen Mehrwert:
- Kontinuierliches Lernen und Weiterqualifizierung. Unternehmen sollten kontinuierliches Lernen in den Mittelpunkt ihrer Personalentwicklung stellen. Da erfahrene Mitarbeiter schneller in den Ruhestand gehen, als neue Talente auf den Arbeitsmarkt drängen, ist es unerlässlich, die bestehende Belegschaft zu halten und weiterzuentwickeln. Dies umfasst die systematische Ermittlung von Kompetenzlücken und die Umsetzung gezielter Schulungsprogramme, die sowohl den aktuellen als auch den künftigen Bedarf decken. Digitale Tools, einschließlich KI und maschinelles Lernen, können die Effizienz und Personalisierung von Lerninitiativen erheblich verbessern und den Mitarbeitern helfen, um den technologischen Wandel proaktiv zu bewältigen.
- Ausbildungsprogramme. Um die nächste Generation von Industriemitarbeitern optimal vorzubereiten und langfristig an das Unternehmen zu binden, ist es entscheidend, in attraktive Ausbildungsmöglichkeiten für junge Talente zu investieren. Diese Programme sollten praktische Erfahrungen bieten und jungen Arbeitnehmern sowohl die technischen und als auch die sozialen Kompetenzen vermitteln, die für einen langfristigen Erfolg in der Branche erforderlich sind. Gut strukturierte Ausbildungsprogramme können dazu beitragen, die Qualifikationslücke zu schließen. Gleichzeitig verbessern sie die Mitarbeiterbindung, indem sie bereits frühzeitig Engagement und Loyalität fördern.
- Zusammenarbeit mit Bildungseinrichtungen. Starke Partnerschaften mit Berufsschulen, Fachhochschulen und Universitäten sind entscheidend, um die Ausbildung an die sich wandelnden Anforderungen der Industrie anzupassen. Durch die gemeinsame Entwicklung von Lehrplänen und ein gezieltes Angebot an Praktika können Unternehmen sicherstellen, dass die Absolventen mit den richtigen Qualifikationen und Fähigkeiten ins Berufsleben starten. Eine solche Zusammenarbeit trägt auch dazu bei, das Bewusstsein von Schülern und Lehrern für industrielle Berufe zu schärfen und die Attraktivität der Industriebranche zu erhöhen. Da junge Menschen heutzutage technologieaffin sind, wollen sie auch in ihrem Beruf moderne Technologien nutzen. Diese Tatsache können sich Unternehmen zunutze machen und ihr Angebot entsprechend anpassen.
- Technologie als Ausbildungsinstrument. Der digitale Wandel verändert auch die Art und Weise, wie Menschen lernen. Unternehmen können Automatisierung, virtuelle Simulationen und E-Learning-Plattformen einsetzen, um eine flexible und skalierbare Ausbildung zu ermöglichen. Dies erlaubt es den Arbeitnehmern, sich kontinuierlich weiterzubilden und ihre Fähigkeiten zu verbessern. Technologiegestütztes Lernen hat das Potenzial, die Anpassungsfähigkeit zu verbessern und gleichzeitig eine Kultur der Innovation und der lebenslangen Entwicklung zu fördern.
Fazit
Trotz wirtschaftlicher Unsicherheiten zeigt der deutsche Industriesektor eine klare Tendenz zur technologischen Erneuerung. Das bekräftigt auch die eingangs erwähnte Untersuchung unter 3.600 Entscheidern: 82 % der Unternehmen sind der Meinung, dass ihr Erfolg vom Einsatz und der Akzeptanz neuer Technologien abhängt. Doch die Herausforderungen sind gerade in der Industrie sehr vielfältig: Bei der Einführung neuer Technologien müssen auch die Auswirkungen auf die Belegschaft sowie die veränderten Qualifikationsanforderungen der Mitarbeiter berücksichtigt werden. Nur dann kann das Zusammenspiel von Menschen und Maschinen optimiert und das Beste aus beiden herausgeholt werden. Führende Industrieunternehmen haben verstanden, dass ein starker Fokus auf die Weiterbildung und Entwicklung der Belegschaft den erforderlichen Wandel bewirken können.