Druck im Kessel – ERP Wechselgründe

Verschiedene Gründe sprechen derzeit für eine Modernisierung der ERP-Infrastruktur. Weitverbreitete Systeme, die aus der Wartung laufen, bahnbrechender technologischer Fortschritt, durch die Corona-Pandemie entdeckte Digitalisierungslücken: Derzeit erhöht sich aus verschiedenen Richtungen der Druck, Entscheidungen über den Umgang mit dem ERP-System zu treffen.

Bis Ende 2027 gibt SAP den Kunden der SAP Business Suite 7 noch Zeit, bis die Mainstream-Wartung ausläuft und die Anwender auf die aktuelle Variante SAP S/4HANA idealerweise umgestellt haben. Klingt eigentlich nach ausreichend Zeit, doch noch läuft eher die lizenztechnische Umstellung als die tatsächliche Systemtransformation. Und SAP ist nicht das einzige Unternehmen, das versucht, Bestandskunden auf die aktuelle Version zu bringen. Deutlich weniger Zeit wurde beispielsweise Dynamics AX-Kunden von Microsoft eingeräumt, ihre Altsysteme zu modernisieren. Die Mehrheit der deutschen Kunden dürfte mit ihren eingesetzten Versionen AX 2009 bis AX 2012 R2 spätestens im Herbst 2018 aus dem Mainstream-Support herausgelaufen sein, für die letzte AX-Variante AX 2012 R3 endet er am 12. Oktober 2021.

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Auch der teure und wenig Leistungen umfassende Extended-Support endet absehbar für alle AX-Varianten. Allerdings fast noch kritischer zu bewerten ist das Wartungsende der Datenbankserver und Server-Betriebssysteme. Dynamics AX 2009 Servicepack 1 verträgt sich beispielsweise nur maximal bis Windows Server 2012 R2. Bei jüngeren Versionen des Windows Server garantiert der Hersteller nicht, dass diese reibungslos mit älteren Versionen von Dynamics AX zusammenarbeiten. An einmal eingeschwungenen Systemen ist die Notwendigkeit von Updates nicht so ausgeprägt, nicht gestopfte Sicherheitslücken auf Datenbankebene bedeuten aber eine deutlich größere Gefahr für das Unternehmen.

Auslöser für ERP-Projekte

Aber auch für Unternehmen, deren ERP-Lösung nicht aus der Wartung läuft, gibt es wichtige Gründe, über eine Modernisierung oder einen Wechsel der ERP-Infrastruktur nachzudenken. Wirft man einen Blick auf die Gründe, die Anwender in der Ende 2020 veröffentlichten Umfrage „ERP in der Praxis“ für die Neueinführung eines Systems genannt haben, spielt der Punkt auslaufende Wartung eine untergeordnete Rolle. Die Auslöser für die Auswahl und Einführung eines neuen ERP-Systems sind aber relativ eindeutig: Die Ablösung der vorhandenen ERP-Infrastruktur erfolgt überwiegend (ca. 53 % der Installationen), weil die vorhandene Lösung den Anforderungen des Betriebs nicht mehr gerecht wird, sei es in technologischer Hinsicht (beispielsweise Integration mit anderen Systemen, Passung zur Hardware-/Datenbank-Technologie, mobile Zugriffsmöglichkeiten) oder mangels notwendiger Funktionalität.

So stellen Unternehmen zum Beispiel häufig fest, dass die vorhandene ERP-Infrastruktur nicht in der Lage ist, neue Anforderungen aufgrund veränderter Unternehmensstrukturen, etwa Übernahmen beziehungsweise Verkauf von Unternehmensteilen zu erfüllen. Offenbar schlägt die oft zitierte Dynamik durch Zu- und Verkäufe von Unternehmen, Standortverlagerungen etc. sowie intensive Bemühungen um rationellere Arbeitsabläufe stärker als früher auf die ERP-Infrastruktur durch. So stellt beispielsweise die zunehmende Internationalisierung der Anwenderunternehmen manche ERP-Software vor gravierende Herausforderungen.

Auswahlgründe für ERP-Lösungen

In der betrieblichen Praxis sind die bei der Auswahl einer ERP-Lösung ausschlaggebenden Gründe für die Investitionsentscheidung ausgesprochen vielfältig. Sie hängen nicht zuletzt von den Rahmenbedingungen und der Zielsetzung des Projektes sowie von der Interessenslage der beteiligten Akteure in einem Unternehmen ab.

Dennoch ergibt die Analyse der Auswahlgründe ein recht eindeutiges Bild der Präferenzen, die für Anwenderunternehmen bei ERP-Investitionen ausschlaggebend sind: Demnach sind die wichtigsten Anforderungen „funktionale Eignung“ (ausschlaggebend in fast 59 % der Projekte), „Flexibilität der Software“ (ca. 39 %) und „Praktikabilität/Mittelstandseignung“ (ca. 39 %). Auf den Plätzen folgen „Kosten-Nutzen-Verhältnis“, „Benutzerführung/Ergonomie“, „Kompetenz & Auftreten des Anbieters“ sowie „Moderne Technologie der Lösung“ (zwischen 23 % und 29 %).

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Aktuelle Systeme erhöhen Zufriedenheit

Im Schnitt wurden die von den Befragten eingesetzten Systeme vor 11 Jahren eingeführt und vor über drei Jahren das letzte Mal aktualisiert. Nicht überraschend, aber durch die Studie auch empirisch bestätigt, ist eine Korrelation zwischen guten Bewertungen und dem Zeitpunkt des letzten Systemwechsels. Je aktueller die genutzten Systeme sind, desto besser schneiden diese ab. Die Einschätzung der mobilen Einsetzbarkeit sinkt z.B. im Vergleich zu gerade aktualisierten Systemen um eine dreiviertel Note, wenn Unternehmen auf mehr als 6 Jahre alten Release-Ständen arbeiten.

Technologische Trends

Im Rahmen der Studie „ERP in der Praxis“ machten mehr als 2.000 deutschsprachige Anwender Angaben zu den aus ihrer Sicht wichtigsten ERP-Trends. Auffällig ist die Zunahme von Digitalisierungsthemen wie Internet der Dinge (IoT), Plattform-Wirtschaft oder Machine Learning / Künstliche Intelligenz, die die befragten Unternehmen signifikant stärker als „äußerst relevant“ eingestuft haben als in der Befragung vor zwei Jahren. Neu in der Liste ist der Punkt „No Code / Low-Code“; unter diesem Stichwort verstehen Anbieter Angebote, die es Anwenderunternehmen ermöglichen, ohne große Programmierkenntnisse funktionale Ergänzungen ihrer bestehenden Software selbst zu erstellen.

No-Code-/Low-Code (NC/LC)- Systeme haben bisher keine weite Verbreitung, es ist aber absehbar, dass ihre Relevanz zunehmen wird: Die Geschwindigkeit, mit der sich Unternehmensprozesse ändern hat schon in den letzten Jahren stark zugenommen und wird sich wohl auch in Zukunft vergrößern. NC-/LC-Systeme könnten dann die Lösung sein, um auch die Business Software schnell auf die geänderten Prozesse anpassen zu können. Auch die zunehmende Digitalisierung wird hier einen entsprechenden Einfluss haben. Für ERP-Systeme, die keine einfache Erweiterungsfähigkeit mitbringen, stellen solche Plattformen daher eine hilfreiche Ergänzung dar.

Entscheidend ist, dass ein Zugriff auf die ERP-Kernfunktionen immer über eine stabile API erfolgt und sich keine Parallelwelt in den NC/LC-Apps aufbaut. Das ERP-System sollte die “single source of truth” bleiben. Andernfalls entsteht eine Lösung; die auf Dauer nicht mehr mit vertretbarem Aufwand gewartet werden kann und Inhalte laufen gegebenenfalls auseinander.

Vormarsch der künstlichen Intelligenz

Unternehmen müssen in der Lage sein, ihre Entscheidungen schneller auf der Basis von mehr Informationen zu treffen, sich auf Automatisierung fokussieren, in Echtzeit Risikobewertungen vornehmen und agil ihre Entscheidungen und Strategien an geänderte Rahmenbedingungen anpassen. Dabei spielen Verbesserungen, die auf Basis von Anwendungen künstlicher Intelligenz basieren, für die befragten Anwender eine große Rolle. Ein Drittel sieht beispielsweise das Thema als relevant in den Bereichen der automatischen Anpassung von Dispositionsparametern wie Bestandsmanagement oder Arbeitsplanung, im Segment Predictive Maintenance oder in der automatisierten Kundenbetreuung via Chatbots und virtuellen Assistenten an.

Trotz vorhandener Out-of-the-Box KI-Lösungen wird auf Seiten der Anwenderunternehmen Aufwand zur Datenbereitstellung, zur Auswahl der passenden Algorithmen, zur Überwachung sowie zum Training von anwendbaren Modellen entstehen, schätzt der Bitkom in seinem aktuellen ERP Trend-Check 2021. Dazu ist Expertenwissen in den Unternehmen erforderlich. Es entstehen teils neue Rollen, zu denen neben den Data Scientists, KI-Entwicklern und Administratoren auch KI-Manager, KI-Trainer und KI-Controller gehören können.

Die Einbindung und Nutzung von künstlicher Intelligenz wird die ERP-Landschaft deutlich verändern und zu einem wesentlichen Wettbewerbsfaktor werden. Sie wird als Schlüsseltechnologie die zweite Welle der Digitalisierung in Unternehmen dominieren und zu disruptiven Veränderungen in allen Wirtschaftszweigen führen. Unternehmen sind gut beraten, die Chancen der KI zu nutzen und frühzeitig Erfahrungen zu sammeln.

Die durch KI bevorstehenden Veränderungen der Unternehmensanwendungen durch eine höhere Entscheidungsqualität, -geschwindigkeit und auch Automatisierung sind nach Einschätzung des Bitkom fundamental. Dabei wird die zentrale ethische Herausforderung für ERP-Anbieter und -Anwender sein, analog zu den Empfehlungen des Bitkom intelligente Systeme humangerecht und werteorientiert zu gestalten. Dafür werden zurzeit von nationalen und internationalen Normungsbehörden und der deutschen Bundesregierung Leitlinien und Normen erstellt, die sich eine „vertrauenswürdige KI“ zum Ziel gesetzt haben.

Fazit

Es gibt aus technologischer, funktionaler und prozessualer Sicht gute Gründe für Unternehmen, über eine neue ERP-Lösung nicht nur nachzudenken, sondern den Prozess der Auswahl und Einführung ernsthaft zu betreiben. Das Wissen um die Unzulänglichkeiten der eigenen Arbeitsweise ist oftmals vorhanden, es fehlen einfache Möglichkeiten der Informations-beschaffung, Kennzahlen zur Unternehmenssteuerung sind nicht aktuell, die Abbildung von Produkten im System dauert, mobiles Arbeiten wird nur bruchstückhaft unterstützt – die Liste ließe sich noch leicht verlängern. Hinzu kommen technische Zwänge, beispielsweise das Auslaufen von Sicherheitsupdates für kritische Unternehmensinfrastrukturen.

Und dennoch scheint der Druck immer noch nicht groß genug zu sein, alte Zöpfe abzuschneiden, liebgewonnene Arbeitsweisen zu verändern, Prozesse zu vereinheitlichen. Lange Jahre hat kontinuierliches Wachstum die Schwächen und Unzulänglichkeiten übertüncht, der Druck von Wettbewerbern wurde abgefedert durch eigenes Wachstum. Zu oft wurden schon

Schreckensszenarien über den Untergang der deutschen Wirtschaft skizziert – doch Covid-19 hat den Druck massiv erhöht, ganze Sektoren drohen, auf breiter Front zu schließen, Geschäftsmodelle müssen modernisiert werden. Das Sterben der Einzelnen wird in den nächsten Jahren nicht aufhören, sondern vielleicht sogar in einigen Bereichen dauerhaft sein. Veraltete ERP-Systeme und umständliche Prozesse sorgen nicht für einen aussichtsreichen Platz im Rennen um den Kunden, sondern werden immer deutlicher zum Ballast im Alltag.

Frank Naujoks, Trovarit AG

 

www.trovarit.com
 

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