Der deutsche Mittelstand spricht viel über Automatisierung, setzt aber zu wenig um. Zwischen der hohen Aufmerksamkeit für KI, Automatisierung und Effizienzgewinne einerseits und der realen operativen Praxis andererseits liegen Welten.
Die Gründe dafür reichen von kulturellen Hürden über strukturelle Kompetenzen bis hin zu grundlegenden Missverständnissen darüber, was Automatisierung heute eigentlich bedeutet. Ein Blick auf Reifegrad, Hindernisse und die Rolle von GenAI.
Status Quo der Automatisierung in deutschen KMU
Noch nie war die Bereitschaft zu Automatisierung im Mittelstand so ausgeprägt wie heute. Geschäftsführungen, IT-Leitungen und operative Teams äußern gleichermaßen, dass ineffiziente Abläufe ein strukturelles Problem seien. Gleichzeitig stockt die Umsetzung.
Es gibt hohe Awareness – aber geringe Umsetzungstiefe.Und diese Diskrepanz ist nicht technischer Natur. Sie ist organisatorisch, kulturell und kognitiv.
Drei Muster zeigen sich regelmäßig:
- Unschärfe der Zieldefinition – Automatisierung wird als abstraktes Großprojekt gedacht.
- Mangelnde Priorisierung – Wenig Klarheit, welcher Prozess wirklich Wert schafft.
- Fehlende Verantwortlichkeit – Automation ist „niemandes explizite Aufgabe“.
Das Ergebnis: hohe strategische Zustimmung, aber operative Paralyse. Viele KMUs gehen fälschlicherweise davon aus, dass sich Automatisierung nur lohnt, wenn komplette Abteilungen umgebaut werden. Diese Vorstellung stammt aus früheren RPA-Generationen, die technologisch schwerfällig waren: lange Build-Zyklen, teure Lizenzen, komplexe Inbetriebnahmen.
Automation wird als mehrjähriges IT-Projekt imaginiert, obwohl moderne, sprachgesteuerte Automatisierung längst punktuell einsetzbar wäre – in Prozessen, die wenige Stunden pro Woche binden.
Branchenvergleich: Strategie schlägt Industriezugehörigkeit
Häufig wird gefragt: Welche Branche ist besonders weit? Die Antwort ist ernüchternd: Der Unterschied entsteht weniger durch die Branche als durch die Haltung der Unternehmensführung.
Eine industriell geprägte Organisation kann sehr weit sein, wenn Führung eine klare Automatisierungsagenda verfolgt. Digitale Start-ups hingegen wirken naturgemäß progressiver, weil sie automatisierungsfreundlich geboren werden.
Produktion und Engineering gelten als besonders prädestiniert für Automatisierung.
Doch paradoxerweise bleiben gerade diese Unternehmen oft hinter ihren Möglichkeiten. Der Grund: lange gewachsene Strukturen, fragmentierte IT-Landschaften, starke Abhängigkeit von Fachkräften.
Branchenunabhängig sind es immer die gleichen Funktionsbereiche, die den höchsten ROI generieren:
- Finance: Accounts Payable, Zahlungsabstimmungen, Reporting
- HR: Onboarding, Offboarding, Dokumentenabgleiche
- IT: Monitoring, Ticketing, Routineinterventionen
Diese Bereiche weisen die höchste Prozessdichte und Wiederholbarkeit auf – ideale Voraussetzungen für Automatisierung.
Die Hindernisse: Technologie oder eher Adoption?
Wenn es um die Frage geht, warum Automation stockt, werden häufig Technologie, Kosten oder fehlende Fachkräfte genannt. Doch in der Praxis zeigt sich ein anderes Bild: Der entscheidende Engpass ist die Adoption.
Unternehmen unterschätzen, wie tief Automatisierung in bestehende Routinen eingreift. Nicht die Software ist das Problem, sondern die Veränderung der täglichen Arbeit.
Drei kulturelle Faktoren bremsen besonders:
- Rollenangst („Werde ich ersetzt?“)
- Komfortzonen („Ich mache es lieber wie immer.“)
- Abstraktionsbarrieren („Ich verstehe nicht, was automatisiert werden soll.“)
Ein Fehler vieler Transformationsprojekte: Automatisierung wird als Kostensenkungsmaßnahme kommuniziert – nicht als Kompetenzgewinn. Dabei gilt: Menschen akzeptieren Automatisierung eher, wenn sie selbst Automatisierung anwenden dürfen.
Der bevorstehende Wendepunkt – KI wird zugänglich
Sobald KI in der Lage ist, nicht nur Texte zu generieren, sondern Abläufe zu bauen, zu testen und zu orchestrieren, sinkt die Einstiegshürde massiv. Damit wird AI von einem Tool zum Automatisierungsvehikel.
Genau an dieser Schwelle steht der Markt heute. Der zentrale Umbruch der kommenden Jahre ist eindeutig: Natürliche Sprache wird zur Programmierschnittstelle. Der technische Begriff dafür: vibe coding. Die Konsequenz: Die Barrieren traditioneller RPA-Tools – Vendor-Expertise, komplexe GUIs, fragmentierte Pipelines – lösen sich auf. Traditionelle RPA-Prozesse sind: komplex im Aufbau, teuer im Betrieb, schwer zu warten und abhängig von spezialisierten Entwicklern.
GenAI automatisiert die Erzeugung der technischen Logik. Statt Wochen dauert der Aufbau einzelner Prozesse Minuten. Statt Spezialsoftware nutzt der Anwender Text. Man muss keine RPA-Tools mehr lernen, um Automatisierungen zu bauen.Diese Demokratisierung verändert Rollenprofile radikal.
Durch AI-first-Architekturen wird Automatisierung zentralisiert: Datenzugänge, Browserinteraktionen, API-Calls, Logik – alles in einem semantischen Layer. Das reduziert Komplexität und erhöht Stabilität.
Die nächsten drei Jahre – was KMU erwartet
Vibe coding und vibe automation – 100 Prozent. Die Vereinfachung wird exponentiell sein. Prozessautomation wird zur Alltagsfähigkeit, nicht zur Spezialdisziplin. Neue Rollen entstehen – etwa Citizen Automators –, die ohne formale IT-Ausbildung produktive Automationen verantworten können.
Die kurzfristigen Effekte sind klar: AI erhöht Produktivität, ersetzt aber keine Jobs. Langfristig wachsen Unsicherheiten – welche Rollen entstehen, welche verschwinden, welche Kompetenzen neu gefragt sind. Doch der größte Teil dieser Entwicklung wird inkrementell, nicht disruptiv sein.
Der deutsche Mittelstand befindet sich nicht in einer Zukunftsvision, sondern an einer operativen Schwelle. Automatisierung wird nicht spektakulärer, sondern zugänglicher. Nicht größer, sondern einfacher. Nicht teurer, sondern alltäglicher.
Die zentrale Herausforderung besteht darin, den ersten Schritt zu machen – nicht im Finden der perfekten Technologie, sondern im Erzeugen erster, sichtbarer Erfolge.